Die europäische Gesetzgebung ist eine komplizierte und vor allem langwierige Angelegenheit. Zunächst legt die EU-Kommission einen Gesetzentwurf vor, wozu sie aber auch vom Europäischen Parlament oder von den Mitgliedsstaaten aufgefordert werden kann.
Danach beginnt ein Pingpong zwischen dem Parlament und dem Minister:innenrat, die in verschiedenen Schritten Änderungen fordern können, die dann wiederum dem anderen EU-Organ vorgestellt werden müssen. Dieses Hin und Her nimmt nicht selten mehrere Jahre in Anspruch.
Und da die Minister:innen im Rat aus den Regierungen der Mitgliedsländer kommen, kann es schon mal passieren, dass ein wackeliger Kompromiss kurz vor Ende noch nationalem oder parteipolitischem Kalkül zum Opfer fällt.
Dieses Schicksal ereilte in letzter Zeit gleich mehrere wichtige Klima- und Umweltschutzgesetze.
Jüngstes Beispiel der traurigen Liste ist das Naturwiederherstellungsgesetz. Zwei Jahre Verhandlungen hatte der Gesetzesvorschlag hinter sich, der nun vor wenigen Tagen an den Minister:innen scheiterte.
Mit dem Gesetz sollten Jahrzehnte der Schädigung von Land- und Wasserökosystemen rückgängig gemacht werden, indem Renaturierungsmaßnahmen auf mindestens 20 Prozent aller EU-Land- und Meeresflächen erfolgen. Die Wiederherstellung von Ökosystemen ist wichtiger Bestandteil des European Green Deal. Ohne intakte Wälder und Moore, die CO2 aus der Atmosphäre ziehen, sind die europäischen Klimaziele kaum einzuhalten.
Gegen erheblichen Widerstand der konservativen EVP-Fraktion votierte das EU-Parlament vergangenen Sommer in erster Lesung für den Gesetzentwurf. In harten Trilog-Verhandlungen zwischen Parlament, Rat und Kommission wurde der Entwurf abgeändert. Dem Kompromiss stimmte das Parlament schließlich Ende Februar mit knapper Mehrheit zu.
"Schlechtes Zeichen für den europäischen Klimaschutz"
Schließlich fehlte nur noch die endgültige Zustimmung der EU-Umweltminister:innen, die als Formalie galt. Schließlich hatte der Rat an dem Kompromiss mitverhandelt. Doch zum großen Erstaunen vieler entzog Ungarn dem Gesetz kurzfristig seine Zustimmung.
Damit fehlt für das Gesetz eine qualifizierte Mehrheit – dafür sind mindestens 15 der 27 Mitgliedsstaaten nötig, die mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren. Die belgische Ratspräsidentschaft strich die Abstimmung kurzerhand von der Tagesordnung.
Das sei ein "schlechtes Zeichen für den europäischen Klimaschutz", sagte Bundesumweltministerin Steffi Lemke, die das Gesetz unterstützt hatte. Neben Ungarn hatten auch Österreich, die Niederlande, Italien und Schweden angekündigt, mit "Nein" stimmen zu wollen.
EU-Umweltkommissar Virginijus Sinkevičius warnte, dass ein Aufschub des Gesetzes auf unbestimmte Zeit den Ruf der EU weltweit zerstören würde. Deshalb wird es wohl in den kommenden Wochen noch einige Kompromissangebote geben, um eine weiter verwässerte Version des Gesetzes doch noch zu verabschieden.
Viel Zeit bleibt nicht: Die letzte Parlamentssitzung vor den Wahlen – spätestens dort müssten die Abgeordneten den Änderungen zustimmen – ist Ende April. Viele Expert:innen erwarten einen Rechtsruck bei den Parlamentswahlen im Juni.
Das könnte umwelt- und klimapolitischen Gesetzesinitiativen weitere Steine in den Weg legen. Denn obwohl viele Gesetze am Minister:innenrat scheitern, hat auch das Parlament schon das ein oder andere EU-Gesetz zu Fall gebracht.
Regulierung für Pestizide scheitert am Parlament
So sprach sich im November eine klare Mehrheit der Abgeordneten gegen eine EU-Pflanzenschutzverordnung aus. Diese sollte den Einsatz chemischer Pflanzenschutzmittel bis 2030 um die Hälfte verringern. In Schutzgebieten sollten gar keine Pestizide mehr erlaubt sein.
Die Parlamentarier:innen lehnten auch eine Nachverhandlung ab, womit das Gesetz nun erstmal vom Tisch ist. Die Kommission müsste einen komplett neuen Entwurf vorschlagen, um die Regulierung chemischer Pflanzenschutzmittel erneut in Angriff zu nehmen.
"Es ist ein schwarzer Tag für die Umwelt und für Europas Landwirte, die weiter von der Agrochemie abhängig bleiben", reagierte die Grünen-Abgeordnete Sarah Wiener auf das Aus. Das Pestizidgesetz scheiterte damit nur wenige Tage, nachdem die EU-Kommission angekündigt hatte, den Einsatz des Unkrautvernichters Glyphosat für weitere zehn Jahre zu erlauben.
Besonders nervenaufreibend war die Hängepartie um das EU‑Lieferkettengesetz. Nach jahrelangen Verhandlungen verkündeten die Verhandlungsführer:innen von Parlament und Rat Mitte Dezember, eine Einigung erreicht zu haben.
Wenige Wochen später machte die FDP – die an den Verhandlungen maßgeblich beteiligt war – auf einmal eine Kehrtwende und sprach von erheblichen Einwänden an dem Gesetzentwurf. Die Liberalen sorgten deshalb für eine Enthaltung Deutschlands, womit die zerbrechliche Mehrheit für die Lieferkettenrichtlinie hinfällig war.
Laut diversen Medienberichten soll FDP-Chef und Bundesfinanzminister Christian Lindner, der für das Gesetz eigentlich überhaupt nicht zuständig ist, versucht haben, andere EU-Länder davon zu überzeugen, gegen die Richtlinie zu stimmen oder sich zu enthalten.
Das berüchtigte "German Vote"
Es ist nicht das erste Mal, dass die FDP kurz vor knapp noch dazwischengrätscht. So verhinderte sie vergangenes Jahr auch ein Verbrenner-Aus. In Brüssel ist dieser plötzliche Schwenk Deutschlands bei wichtigen Entscheidungen von "Ja" zu "Enthaltung" inzwischen als "German Vote" bekannt.
Mit einem stark ausgehöhlten Kompromissvorschlag konnte die belgische Ratspräsidentschaft schließlich vor wenigen Wochen doch noch eine qualifizierte Mehrheit für das Lieferkettengesetz sichern – ohne Deutschland, das sich trotz großer und schmerzhafter Zugeständnisse an die FDP erneut enthielt.
Das Gesetz soll europäische Unternehmen dazu verpflichten, entlang ihrer gesamten Lieferkette auf Menschenrechte und Umweltstandards zu achten. Ursprünglich sollten alle Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten und einem Jahresumsatz von mindestens 150 Millionen Euro unter die Regelung fallen. Nun wurde die Grenze auf 1.000 Beschäftigte und 450 Millionen Euro hochgesetzt.
Damit fällt gegenüber der vorherigen Fassung nur noch ein Drittel der Unternehmen unter die Richtlinie. In vollem Umfang soll das Gesetz außerdem erst 2032 greifen.
Auch die Regeln zur nachgelagerten Wertschöpfungskette – Entsorgung, Demontage, Recycling – wurden erheblich abgeschwächt. Die Initiative Lieferkettengesetz sieht die EU-Richtlinie dennoch als großen Erfolg, zumal sie in entscheidenden Punkten weiter greift als das bereits existierende deutsche Lieferkettengesetz.
"Die Argumente ergeben keinen Sinn"
So besagt etwa die Haftungsregel, dass Menschen, die unter den Lieferketten europäischer Unternehmen leiden, die Unternehmen nach europäischem Recht auf Schadenersatz verklagen können. Das deutsche Pendant bezieht sich zudem nur auf direkte Zulieferfirmen und nicht auf die gesamte Lieferkette – und auch das Klima spielt darin keine Rolle.
Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi begrüßte die Einigung auf das Lieferkettengesetz. Gleichzeitig nannte es der Vorsitzende Frank Werneke "im höchsten Maße peinlich", dass Deutschland als größtes EU-Land einen erreichten Kompromiss am Ende wieder kippt. "Zumal es nicht das erste Mal ist, dass bereits ausverhandelte Richtlinien plötzlich gestoppt werden", so Werneke.
Zu schlechter Letzt steht die bereits in trockenen Tüchern gewähnte Verordnung für entwaldungsfreie Lieferketten nun wieder zur Diskussion. Sie ist zwar bereits Mitte letzten Jahres in Kraft getreten, befindet sich aber noch in der Übergangszeit.
Das Gesetz soll dafür sorgen, dass Kakao, Kaffee, Palmöl und einige weitere Agrargüter sowie aus ihnen hergestellte Produkte nur dann in Europa angeboten werden, wenn für sie kein Wald gerodet wurde. Genauer: Sie dürfen nicht von Flächen stammen, die nach 2021 abgeholzt wurden.
Jetzt haben sich die Agrarminister:innen einiger EU-Staaten, allen voran der Österreicher Norbert Totschnig, vorgenommen, das Gesetz abzuschwächen und die Übergangsfristen zu verlängern. Die Umweltminister:innen einiger Länder – darunter auch Österreichs Umweltministerin Leonore Gewessler von den Grünen – stellen sich dagegen.
Die Agrarminister:innen argumentieren, die Verordnung setze vor allem kleine und ökologische Betriebe unter Druck. Eric Gall, Vizedirektor der Ökolandbauvereinigung IFOAM Europa, hält dagegen. Gegenüber dem Nachrichtenportal Euractiv erklärte er: "Die Behörden benutzen die ökologische Landwirtschaft als Ausrede, um die Umweltgesetzgebung zu schwächen."
Die vorgebrachten Argumente ergäben keinen Sinn, so Gall, und seien ihm von keiner IFOAM-Mitgliedsorganisation bekannt.