Um das Konzept von Kipppunkten im Klimasystem zu veranschaulichen, greifen Wissenschaftler:innen gerne auf das Bild der Tasse zurück, die langsam über die Tischkante geschoben wird. Die Kraft, die auf die Tasse wirkt, bewegt sie anfangs nur Stück für Stück über die Tischplatte, wobei nichts weiter passiert – bis an einem bestimmten Punkt die Tasse plötzlich über die Kante kippt.

 

Dabei ist das Verhalten der Tasse nicht nur abhängig von der auf sie ausgeübten Kraft, sondern auch von dem Ort, an dem sich die Tasse zuvor befindet – etwa mitten auf der Tischplatte oder dicht an der Kante. Wirkt dieselbe Kraft in entgegengesetzter Richtung auf die Tasse ein, bewegt sie sich auf der Tischplatte wieder zurück – aber nicht, wenn sie bereits gekippt ist. Dann bringt eine gleich große Krafteinwirkung in die Gegenrichtung die Tasse nicht wieder auf die Tischplatte zurück.

Allgemeiner ausgedrückt: Die Ergebnisgröße (Ort der Tasse) hängt nicht nur von der Einwirkungsgröße (Kraft) ab, sondern auch vom vorherigen Zustand der Ergebnisgröße. Dieses Systemverhalten nennt sich Hysterese und kommt bei zahlreichen Systemen vor – eben auch bei wichtigen Teilsystemen des Erdsystems, den sogenannten Kippelementen.

Wie hoch das Risiko ist, so einen Kipppunkt zu überschreiten, hat eine jüngst in der Fachzeitschrift Nature Communications veröffentlichte Studie zum Thema. Federführend beteiligt waren Forscher:innen des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) und des Internationalen Instituts für Angewandte Systemanalyse (IIASA) in Wien.

Im Zentrum der Studie standen vier miteinander in Verbindung stehende Kippelemente: der Grönländische und der Westantarktische Eisschild, die Atlantische Umwälzzirkulation und der Regenwald im Amazonas.

Aktuell verfügbare komplexe Erdsystemmodelle eignen sich nur bedingt dafür, Wechselwirkungen zwischen Kippelementen zu simulieren. Die Rückkopplungseffekte zwischen den großen Eisschilden und anderen Bestandteilen des Erdsystems könnten etwa von den Modellen derzeit nicht abgebildet werden, erläutert Annika Högner vom PIK, eine der Leitautorinnen, im Gespräch mit Klimareporter°.

Wann kippt die Tasse? Und was passiert dann? (Bild: Sergej Tscherwjakow/​Shutterstock)

In der Studie verwendeten die Forscher:innen deshalb vereinfachte, konzeptuelle Modelle. Darin werden die vier Kippelemente, basierend auf dem heutigen Wissensstand, miteinander gekoppelt und in verschiedenen Erderwärmungsszenarien modelliert.

Damit können das Hysterese-Verhalten der Teilsysteme sowie Interaktionen zwischen den Kippelementen abgebildet werden.  

Wenn sich an der gegenwärtigen Klimapolitik der Staaten nichts ändert, besteht laut den Wissenschaftler:innen ein Risiko von 45 Prozent, dass mindestens eines der vier untersuchten Systeme bis zum Jahr 2300 kippt.

"Auch wenn sich Zeitskalen bis 2300 oder noch weiter in die Zukunft sehr weit weg anfühlen, ist es wichtig, die mit Kippelementen verbundenen Risiken so gut wie möglich aufzuzeigen und zu benennen", sagte Tessa Möller, zweite Leitautorin der Studie und Forscherin an IIASA und PIK.

"Kippen eines Systems muss unbedingt verhindert werden"

Das Kippen eines Systems hätte derart gravierende und unumkehrbare Folgen, dass ein Überschreiten eines Kipppunktes unbedingt vermieden werden müsse, schreiben die Forschenden.

Außerdem bedeutet das Ergebnis nicht, dass ein Kipppunkt nicht schon wesentlich früher erreicht werden kann. Die Atlantische Umwälzzirkulation – dazu gehört der Golfstrom – überschreitet den Kipppunkt in manchen Simulationen bereits in 15 Jahren, der Amazonas-Regenwald schon in 50 Jahren.

Genaue Prognosen über das mögliche Kippen eines Systems sind nur mit extrem hohen Unsicherheiten möglich, wie eine weitere kürzlich im Fachjournal Science Advances veröffentlichte Studie zeigt. Sowohl zugrunde liegende Annahmen als auch die Datengrundlagen würden zuverlässige Voraussagen unmöglich machen.

Eben deshalb hätten sie sich in ihrer Studie dafür entschieden, keine Prognosen zu geben, sondern mit Risikoabschätzungen für mittel- und langfristige Zeitskalen zu arbeiten, sagt Möller. Wenn komplexe Erdsystemmodelle die Interaktionen zwischen den Kippelementen besser abbilden könnten, fügt die Forscherin hinzu, ließen sich einige Wissenslücken schließen.

Möller: "Aber die Zeit drängt. Wir haben keine fünf oder zehn Jahre Zeit, um auf Modelle zu warten, die potenziell genauere Prognosen geben könnten. Wir wissen, dass das Risiko mit jedem Zehntelgrad über 1,5 Grad steigt."

Gerade bei den nur träge reagierenden Eisschilden auf Grönland und der Westantarktis kann noch nicht einmal mit Sicherheit ausgeschlossen werden, dass die Kipppunkte durch schon in Gang gesetzte, unaufhaltsame Rückkopplungseffekte bereits überschritten sind.

Trotz all der Unsicherheiten zeigen die Ergebnisse der Studie eindeutig, dass mit jedem Zehntelgrad über der 1,5-Grad-Schwelle das Kipp-Risiko wächst. Dabei steigt das Risiko ab der Zwei-Grad-Marke noch schneller. Das gilt auch, wenn nach dem "Overshoot" die Erwärmung wieder unter 1,5 Grad gedrückt wird.

Diese Ergebnisse unterstreichen laut den Autor:innen, dass ein schnelles Senken der Treibhausgasemissionen noch in diesem Jahrzehnt entscheidend für die Stabilität des Erdsystems ist.

Das Risiko zu minimieren ist möglich

Um das Kipp-Risiko zu minimieren, muss in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts Klimaneutralität erreicht und gehalten werden. Doch auch das reicht nicht aus, wie die Forscher:innen herausfanden.

Stattdessen müsste die Erwärmung nach 2100 bei nur einem Grad über vorindustriellem Niveau stabilisiert werden. Gegenwärtig liegt die Erderwärmung zwischen 1,1 und 1,2 Grad. Die letzten 13 Monate, die jeweils 1,5 Grad über dem vorindustriellem Mittel lagen, werden zu einem Teil auf vorübergehende natürliche Schwankungen im Erdsystem zurückgeführt.

Die große Sorge bezüglich der Kippelemente ist, dass das Kippen eines Systems auch das Kippen eines oder mehrerer weiterer Systeme begünstigen kann. So etwa bei den vier untersuchten Kippelementen.

Während der Süßwassereintrag durch die schmelzenden Eisschilde die Atlantikströmung – und damit auch den Golfstrom –  zum Erliegen bringen kann, hat das Strömungssystem wiederum Einfluss auf Niederschlagsverteilung und Temperatur im Amazons-Regenwald.

Annika Högner: "Wir wissen, dass sich das Niederschlagsmuster über dem Regenwald dadurch verändert, aber nicht, wie. Dementsprechend ist auch unklar, wie sich eine Änderung oder ein Kippen des Strömungssystems auf den Amazonaswald letzten Endes auswirken würde."

Die Studienergebnisse seien natürlich alarmierend, sagt Möller. Gleichzeitig machten sie deutlich, dass das Kipp-Risiko reduziert werden könne, sofern das Pariser Klimaabkommen eingehalten wird. Und das sei möglich. Die Instrumente und Strategien dafür seien bekannt, es fehle bisher schlicht am politischen Willen.

Wie eine Welt nach dem Kippen von einem oder mehreren Systemen aussehen würde, auch dazu braucht es noch einiges an Forschung. Klar sei allerdings, so Tessa Möller: "Das ist eine Welt, die wir uns heute nicht vorstellen können."