In gut 15 Jahren gibt es ein Ereignis, das Teile der Industrie schon jetzt in Aufregung versetzt. Bleibt die EU bei ihren Klimaregeln, werden ab 2039 keine neuen CO2-Emissionszertifikate im europäischen Emissionshandel mehr ausgegeben.

Das bedeutet für fossile Kraftwerke und energieintensive Industrie: Sind ihre zuvor erworbenen "alten" Zertifikate aufgebraucht, dürfen sie eigentlich keine klimaschädlichen Emissionen mehr haben.

 

Das Aus für neue Emissionsrechte setzt vor allem die Industrien unter Druck, deren CO2-Emissionen schwer oder gar nicht vermeidbar sind, also die Zement-, Kalk- und Abfallbranche. Prognosen rechnen damit, dass ab 2045 – wenn Deutschland klimaneutral sein soll – aus Industrie, Abfalldeponien und Müllverbrennung noch jedes Jahr mehr als 20 Millionen Tonnen CO2 emittiert werden.

2039 dürfte diese unvermeidbare CO2-Menge noch viel größer sein. Wenn sich ein Unternehmen davon im Emissionshandel nicht mehr freikaufen kann, wo sollen die Klimagase dann aber hin?

Abgesehen von einer Stilllegung gibt es für die betroffenen Branchen nur zwei weitere Auswege. Der eine ist, das CO2 abzuscheiden und unterirdisch in Deutschland oder anderswo einzulagern – die CCS-Technologie. Der andere wäre, sogenannte negative Emissionen zu erzeugen oder entsprechende "Negativ-Zertifikate" anzukaufen. Diese könnten dann die unvermeidbaren Emissionen aufwiegen.

Einen Markt, auf dem negative Emissionen käuflich zu erwerben sind, gibt es bislang nur als Konzeptpapier, zuletzt vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und der Förderbank KfW vorgelegt.

Neuer Lobbyverband macht Druck für CO2-Speicherung

Ganz anders sieht es bei CCS aus. Ende Juni dieses Jahres beschloss die damals noch vollständige Ampel-Regierung bereits eine Novelle des Kohlendioxid-Speicherungsgesetzes. Der Gesetzentwurf brachte Ende September auch eine erste Lesung hinter sich. Nun schmort er im federführenden Ausschuss für Klimaschutz und Energie.

Das neue CO2-Speichergesetz gehört zu den Vorlagen, die vom Ampel-Aus zwar aufgehalten sind, die die interessierte Industrie aber gern noch vor den Bundestags-Neuwahlen beschlossen sehen will. Um für dieses kurzfristige Ziel Druck aufzubauen, hoben Unternehmen aus der Zement-, Kalk-, Energie- und Transportbranche sowie aus der Abfallwirtschaft vor wenigen Tagen die "Carbon Management Allianz" (CMA) aus der Taufe.

Die Allianz verfolge das Ziel, branchenübergreifend die Abscheidung, Speicherung sowie Weiterarbeitung von CO2 in Deutschland zu etablieren, teilte der neue Lobbyverband mit.

Weiterverarbeiten meint dabei, abgeschiedenes CO2 in langlebigen Produkten zu speichern und so den Austritt in die Atmosphäre um einige Jahre bis Jahrzehnte zu verzögern.

Eine weitere Verzögerung des CO2-Speicher-Gesetzes stelle geplante Investitionen klar infrage, erklärte anlässlich der CMA-Gründung Alexandra Decker, Vorständin bei Cemex, einem weltweit führenden Zementhersteller mit Sitz in Mexiko. Ohne die Novelle laufe Deutschland Gefahr, bei CCS immer mehr ins Hintertreffen zu geraten.

Speicherort für abgeschiedenes CO2 fehlt bislang

Cemex verfolgt selbst ein CCS-Projekt in Deutschland. Im Zementwerk Rüdersdorf westlich von Berlin ist der Industriegase-Konzern Linde beauftragt, eine Anlage zur CO2-Abscheidung zu errichten und zu betreiben, einschließlich Verflüssigung des CO2. Am Ende sollen jährlich 1,3 Millionen Tonnen CO2 aus der Zementherstellung in Rüdersdorf abgeschieden werden, um das Werk bis 2030 zu dekarbonisieren.

Wo das Flüssig-CO2 dann hinkommt, ist unklar. Cemex-Vorständin Decker würde das Treibhausgas gern möglichst nah am Produktionsstandort lagern. Je näher der Speicher am Werk liegt, desto geringer seien die Kosten, argumentierte sie.

Modernes Zementwerk mit hohen weiß-blauen Gebäuden und Anlagen.
Das Zementwerk Rüdersdorf bei Berlin soll bald mit CO2-Abscheidung arbeiten. Das Management wünscht sich eine Speicherung des CO2 in der Region statt unter der Nordsee. (Bild: Zavijava/​Wikimedia Commons)

Decker ist sich dabei über die Akzeptanzprobleme für CCS im Klaren. Vorerst plane Cemex deswegen, das abgeschiedene Gas zu exportieren. Bevorzugtes Ziel: die Meerestiefen der Nordsee vor Norwegen.

CCS bedeutet aus Unternehmenssicht einen ordentlichen Kostenbatzen. Solange der CO2-Preis im Emissionshandel nicht hoch genug ist und sich CCS darüber quasi automatisch rechnet, benötigt die Branche aus Sicht von Alexandra Decker eine Förderung über Klimaschutzverträge – sowie längerfristig einen Markt für CO2-freie Produkte.

Unvermeidliche CO2-Mengen machen auch der Abfallbranche Sorgen, vor allem die Emissionen aus der Müllverbrennung. Aus einer Tonne Abfall entsteht beim Verbrennen etwa eine Tonne CO2, räumte Timo Poppe von der Energy from Waste GmbH (EEW) bei der CMA-Präsentation ein. Das ist in etwa so viel Treibhausgas, wie auch beim Verbrennen einer Tonne Braunkohle entsteht.

Während mit dem Braunkohleverbrennen spätestens 2038 Schluss ist, gibt es fürs Müllverbrennen bislang kein Enddatum. Wie groß der künftige Bedarf an CCS durchs Müllverbrennen sein wird, dazu machte EEW-Chef Poppe auf Nachfrage keine Angaben.

EEW, ein Unternehmen mit Sitz in Niedersachsen, "verwertet" an europaweit 17 Standorten jährlich rund fünf Millionen Tonnen Abfälle. Dabei werden rund zwei Millionen Tonnen CO2-Äquivalent frei, ist im Nachhaltigkeitsbericht von EEW zu lesen.

Umweltverbände kritisieren CCS als "fossilen Irrweg"

Die Bundesregierung geht in ihrer Carbon-Management-Strategie davon aus, dass die Müllverbrennung 2045 noch rund 15 Millionen Tonnen CO2 emittiert. Rund 80 Prozent der bis dahin im Bereich Abfallverbrennung erreichten Emissionsminderung sollen demnach auf CCS entfallen.

Klimaschutz läuft damit größtenteils auf CO2-Abscheidung und -Speicherung hinaus. Das CCS-Gesetz sei deshalb ein "fossiler Irrweg", stellen etwa 70 Verbände und Initiativen in einem Mitte November veröffentlichten offenen Brief fest.

Anstatt den dringend nötigen Ausstieg aus fossilen Energien fortzuführen, plane die Bundesregierung, Milliarden an Steuergeldern in eine CCS-Technik zu stecken, die diesen Ausstieg verhindern oder zumindest stark verschleppen würde, kritisieren die 70 Organisationen vor allem aus dem Umwelt- und Energiebereich.

Auch ziele der Gesetzentwurf auf die Entwicklung großer kommerzieller CO2-Abscheideanlagen, die Errichtung von CO2-Deponien sowie den Bau eines flächendeckenden Pipelinenetzes, bei dem jeder Emittent ein Recht auf Anschluss hätte – unabhängig davon, ob er seine CO2-Emissionen nicht auch vermeiden könnte, heißt es im Schreiben weiter. Zudem gelinge die CO2-Abscheidung nie vollständig – trotz CCS gelangten so weiter bedeutende CO2-Mengen in die Atmosphäre.

 

Nicht unterzeichnet hat den offenen Brief bisher der Naturschutzbund Deutschland (Nabu), der die CO2-Speicherung nicht grundsätzlich ablehnt und die neue Industrie-CCS-Allianz begleiten will. Technische Lösungen wie CCS sollten dabei so wenig wie möglich und nur in bestimmten, "eng begrenzten" Bereichen angewandt werden, forderte Nabu-Expertin Steffi Ober bei der Gründung der CMA.

Ober kritisiert insbesondere die gesetzliche Erlaubnis, CCS auch bei Gaskraftwerken anzuwenden. Das lehne der Nabu wegen der Gefahr eines fossilen "Lock-ins" ab. Deutschland müsse vielmehr auch aus fossilem Gas aussteigen.

Auch berge der Einsatz von CCS Risiken für den Arten- und Klimaschutz. Der Nabu wolle hier mit fachlicher Expertise zur Verfügung stehen, bot Ober an. Der Verband plädiert zudem dafür, den Weg in eine CO2-reduzierte Welt mit einem Innovationsfonds zu unterstützen.

Vertreter der Unionsparteien und der FDP kündigten inzwischen an, dem CO2-Speichergesetz noch vor dem Neuwahltermin am 23. Februar zustimmen zu wollen. Unionsfraktionsvize Jens Spahn schlug der rot-grünen Minderheitsregierung dieser Tage vor, sie solle das CCS-Gesetz in der am Montag beginnenden Sitzungswoche des Parlaments auf die Tagesordnung setzen. Dort ist es bis dato allerdings noch nicht aufgetaucht.