Klimareporter°: Frau Kemfert, es wird noch fünf Bundesregierungen geben, bis Deutschland 2045 klimaneutral sein soll. Was muss die nächste Koalition unter einem Kanzler Friedrich Merz als Erstes tun, um hier in die Spur zu kommen?

Claudia Kemfert: Wir haben noch 20 Jahre. Allerdings sind wir in den letzten 20 Jahren, die wir über Klimaschutz reden, in zwei von drei Bereichen noch nicht mal richtig losgelaufen. Die neue Regierung muss hier Tatkraft beweisen.

Also erstens: Ausbau erneuerbarer Energien beschleunigen statt abwürgen. Zweitens: E‑Mobilität auf Straße und Schiene in Gang bringen statt bremsen. Drittens: Wärmewende sozial gerecht über das Gebäudeenergiegesetz einleiten, statt Heizen über den CO2-Preis zum Luxus zu machen.

Gibt es da denn genügend Schnittpunkte von Union und dem wahrscheinlichen Koalitionspartner SPD?

Ja, durchaus. Mit einer reformierten Schuldenbremse sind die nötigen Investitionen in ÖPNV, Digitalisierung und eine zukunftsfähige Modernisierung der Industrie möglich. So stärken wir die Wirtschaft und unterstützen benachteiligte Gruppen.

Bild: Oliver Betke

Claudia Kemfert

leitet die Energie­abteilung am Deutschen Institut für Wirtschafts­forschung (DIW). Sie ist Professorin für Energie­wirtschaft und Energie­politik an der Universität Lüneburg, außerdem Vize-Vorsitzende des Sach­verständigen­rats für Umwelt­fragen der Bundes­regierung und Mitglied des Heraus­geber­rats von Klima­reporter°.

Die Merz-Union will die zuletzt stillgelegten AKW reaktivieren und möglichst neue bauen. Hat das eine Chance?

Ich hoffe, das war bloß Wahlkampf-Getöse. Selbst die Betreiber sprechen sich gegen eine Reaktivierung alter Kraftwerke in Deutschland aus, denn ein Großteil der Kraftwerke befindet sich bereits im Rückbauprozess. Das Atomgesetz müsste geändert werden, Brennstäbe gekauft, Mitarbeiter wieder eingestellt, Atomanlagen sicherheitstechnisch geprüft werden.

Neubauten wären extrem langwierig und erforderten irrwitzige Subventionen, wie man an den Neubauprojekten in Großbritannien, Frankreich oder Finnland sieht. Und in unseren geopolitisch krisengeschüttelten Zeiten sind Atomkraftwerke zudem unnötig riskant. Atomenergie ist eine teure Innovationsbremse und gefährliche Investitionsbarriere, kurz: energiewirtschaftlicher Wahnsinn.

Die SPD könnte also einem Prüfantrag zustimmen, weil sowieso nichts daraus würde …

Sie wollen etwas prüfen, von dem alle wissen, dass es Unsinn ist? Was für eine Verschwendung von Steuergeld! Das einzige, was dabei herauskäme, wäre Politikverdrossenheit.

Für den Pfad zur CO2-Netto-Null bis 2045 muss der Stromsektor bereits 2035 klimaneutral sein. Kann die neue Koalition das schaffen?

Natürlich. Es ist nicht schwer. Man muss nur wollen. Das gehört in den Koalitionsvertrag: Ausbau-Tempo erneuerbarer Energien beibehalten und besser noch beschleunigen, Systemflexibilität durch Sektorenkopplung, mehr Digitalisierung, mehr Speicher und weniger Bürokratie.

 

Andere Themen dürften mehr Konflikte bringen, so das von der Union gefordert Aus für das Heizungsgesetz und das Verbrennerverbot. Gibt es hier Lösungsmöglichkeiten?

Auch hier hoffe ich, dass jetzt wieder Vernunft einkehrt. Das bestehende Heizungsgesetz basiert ja auf einem alten Vorschlag der CDU. Man müsste es lediglich anpassen, um Menschen mit niedrigen Einkommen stärker zu fördern.

Und das "Verbrenner-Verbot" ist ohnehin eine Wahlkampf-Legende. Verbrenner sind nicht verboten, sondern müssen nur sinkende EU-Emissions-Grenzwerte einhalten.

Wenn wir die vereinbarten Emissionsziele in den Sektoren Gebäude und Verkehr nicht einhalten, drohen Deutschland hohe Strafzahlungen.

Vor allem die Union setzt auf steigende CO2-Preise bei Sprit und Heizen, aber auch die SPD. Was müssen sie tun, damit es nicht zu einer neuen "Benzinwut" und Riesenärger kommt, wenn die Heizkosten stark steigen?

Soziale Sicherheit ist ein Kernbedürfnis der Menschen. Das muss endlich Gehör finden. Denn die Lösungen sind längst bekannt: Die CO2-Preis-Einnahmen lassen sich leicht in ein sozial gestaffeltes Klimageld umwandeln. Österreich, Kanada und die Schweiz machen es vor.

Ob E‑Ladepunkte, Bahn oder – wie hier – Wasserstoff, die Infrastruktur erfordert Milliardeninvestitionen. (Bild: Thombal/​Shutterstock)

Auch der ÖPNV und das energetische Sanieren sollten finanziell gefördert werden. Wenn das Deutschlandticket 29 Euro oder noch besser neun Euro kostet, profitieren die Ärmsten am stärksten.

Wenn das Geld in die Entlastung fließt, bleibt kaum etwas für Zuschüsse in Klimaschutz-Maßnahmen, wie Heizungstausch, Ladesäulen-Bau und Wasserstoff-Wirtschaft. Wo soll das Geld dafür herkommen?

Durch eine Reform der Schuldenbremse könnte der Klima- und Transformationsfonds ausreichend finanzielle Förderungen bereitstellen. Die Wirtschaftskrise hat zwei Gründe: dass wir uns leichtsinnig von russischem Gas und Öl abhängig gemacht haben und dass wir unsere Wirtschaft jahrelang kaputtgespart haben.

Wir brauchen Investitionen. Wer unabhängig sein will, setzt auf regional produzierte erneuerbare Energien. Nur so wird die Wettbewerbsfähigkeit dauerhaft gestärkt und es werden zukunftsfähige Jobs geschaffen.

Die Wirtschaft fordert von einer neuen Koalition Entlastung bei den Energiepreisen. Was ist da das richtige Konzept?

Gut wäre eine bedarfsgerechte Entlastung der stromintensiven Industrie, aber bitte keine teure Pauschal-Gießkanne. Die Industrie könnte von Power Purchase Agreements und von sogenannten Differenzverträgen profitieren. Dafür braucht es bloß bessere Rahmenbedingungen.

Das Wirkungsvollste ist allerdings der schnellere Ausbau von Wind- und Solarenergie. Denn erneuerbare Energien senken den Börsen-Strompreis.

 

Frau Kemfert, die Klimaleugner-Partei AfD hat ein Fünftel der Wähler überzeugt, und die Klimaschutz-Partei Grüne hat drei Prozent eingebüßt. Was muss die neue Regierung tun, damit der Widerstand gegen die Energiewende nicht noch weiter wächst?

Die AfD schürt Ängste. Veränderung schafft Verunsicherung. Das ist der Nährboden für Populismus. Deswegen muss die Politik schnell überzeugende Ergebnisse liefern.

Da, wo die Politik die Energiewende vorangetrieben hat, zeigen sich die Vorteile und Erfolge: etwa der sinkende Börsenstrompreis aufgrund des wachsenden Anteils erneuerbarer Energien, die gelingende Elektromobilität in Norwegen, der funktionierende ÖPNV in Österreich oder der Schweiz, die lebenswerten Metropolen Amsterdam, Paris und Oslo oder die vorbildliche Energiewende in Dänemark.

Daraus sollten wir Kraft ziehen, statt uns von fossilen Populisten an der Nase herumführen zu lassen.

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