Diesel-ICE in Kopenhagen
Ein 29-Euro-Ticket lässt sich finanzieren, wenn die gröbsten Subventionen für das Autofahren gestrichen werden. (Foto: Arne List/​Flickr)

Klimareporter°: Herr Knie, das Neun-Euro-Ticket gilt noch bis einschließlich Mittwoch. Der große Zuspruch hat Sie erstaunt?

Andreas Knie: Ja, der große Zuspruch hat doch überrascht. Gerade nach den zwei Jahren Pandemie waren alle sehr unsicher, ob Busse und Bahnen überhaupt noch eine Alternative sein können. Wir dürfen nicht vergessen, dass bis Mai 2022 die Auslastung beim öffentlichen Verkehr nicht einmal 80 Prozent betragen hat.

Allerdings sind nur relativ wenige vom Auto in Busse und Bahnen umgestiegen. Für die Verkehrswende hat es also kaum etwas gebracht ...

Primäres Ziel des Neun-Euro-Tickets war ja die Entlastung der Bestandskunden, analog zum Tankrabatt für die Autofahrenden. Das hat funktioniert. Hier ist daran zu erinnern, dass mit dem ÖPNV vor allen Dingen die unteren Einkommensklassen fahren.

Erfreulich war, dass während der drei Monate ganze Haushalte unterwegs waren, die das vorher nicht getan haben. Darüber hinaus sind auch Menschen mit dem Neun-Euro-Ticket gefahren, die mit dem öffentlichen Verkehr eigentlich schon abgeschlossen hatten.

Viele Politiker, vor allem von Grünen, SPD und Linken, fordern eine Anschlusslösung. Ist das sinnvoll? Und wie genau – noch mal neun Euro, 29 oder 49 Euro, 365 fürs Jahresticket?

Das Neun-Euro-Ticket zeigt: Busse und Bahnen sind auch nach der Pandemie noch nicht ganz aus den Köpfen der Menschen verschwunden. Wir brauchen ja eine Verkehrswende, die bedeutet, dass wir weniger Auto fahren. Das gelingt nur, wenn Busse und Bahnen eine attraktive Alternative darstellen.

Das Neun-Euro-Ticket war sozusagen ein erster Schritt, der zeigt, wie es funktionieren könnte. Jetzt muss nachgelegt werden. Aus den Ergebnissen der sozialwissenschaftlichen Forschung wissen wir, dass ein Preis von über 29 Euro pro Monat nicht mehr attraktiv ist, und dass die Ticketnutzung einfach sein muss.

Finanzminister Lindner ist dagegen, so etwas fördere die "Gratismentalität". Stimmt das?

Den Nutzenden des öffentlichen Verkehrs eine Gratismentalität zu unterstellen, ist mehr als zynisch. Das Auto wird jährlich mit mehr als 50 Milliarden Euro von allen Steuerzahlenden finanziert. Wenn es eine Gratismentalität gibt, dann ist es die, permanent den öffentlichen Raum für das Parken von privaten Autos in Anspruch zu nehmen.

Am 1. September droht nun wieder das teure Ticketdurcheinander, wie wir es von früher kennen. Gäbe es eine kurzfristig umsetzbare Alternative?

Aus unseren Befragungen wissen wir, dass rund 20 Millionen Menschen in Deutschland für den öffentlichen Verkehr zu begeistern wären. Dazu wäre ein Angebot sinnvoll, das 29 Euro im Monat kostet und alles einschließt, was man braucht. Also ÖPNV, Regionalverkehr und dann auch noch die Angebote des Fernverkehrs, also ICE, EC und IC.

Das Sahnehäubchen wäre dann noch die letzte Meile, also die Fahrt von der Endhaltestelle nach Hause mit dem Taxi. Ein Preis überall für praktisch alles.

Porträtaufnahme von  Andreas Knie.
Foto: David Außerhofer

Andreas Knie

Der Verkehrsforscher Andreas Knie leitet am Wissenschafts­zentrum Berlin für Sozial­forschung (WZB) die Forschungs­gruppe Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung. Er ist Professor für Soziologie an der TU Berlin, außerdem gehört er dem Heraus­geber­rat von Klima­reporter° an.

Wie könnte ein solches Ticket denn finanziert werden?

Ein solches Angebot würde wahrscheinlich rund 14 Milliarden Euro jährlich zusätzlich zur Finanzierung des bisherigen öffentlichen Verkehrs kosten. Wenn man die Entfernungspauschale für die Autofahrenden sowie das steuerliche Privileg privat genutzter Dienstwagen sowie die permanente Dieselsubvention streichen würde, dann hätte man rund 16 Milliarden gespart.

Klar, das würde das Autofahren für die mittleren und höheren Einkommen deutlich verteuern, aber die könnten sich das leisten und hätten mit dem 29-Euro-Ticket ja auch eine super Alternative.

Man würde erwarten, dass die Verkehrsunternehmen gemeinsam die Initiative für einen bundesweiten Neun-Euro-Nachfolger ergreifen. Bisher Fehlanzeige. Was glauben Sie, warum?

Eine wirklich sehr traurige Erfahrung mit dem Neun-Euro-Ticket ist, dass die Branche es selbst gar nicht will. Es gibt innerhalb der Branche überhaupt keinen Produktstolz, keinen Wunsch, mehr Fahrgäste zu bekommen. Vor allen Dingen die Gewerkschaften haben es ja klar kommuniziert: mehr Fahrgäste, mehr Ärger.

Immerhin hat Verkehrsminister Wissing das Neun-Euro-Ticket mehrfach in den höchsten Tönen gelobt. Setzen Sie auf ihn?

Man hatte den Eindruck, dass dem Minister das Neun-Euro-Ticket Freude gemacht hat. Die Politik hat der Branche des öffentlichen Verkehrs wirklich mal die Leviten gelesen. Ja, er wäre eine Schlüsselperson bei der Durchsetzung.

Lesen Sie dazu auch unseren Kommentar: Einfach mal aufraffen!

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