Politik und Lüge bilden ein Spannungsfeld. Der Philosoph Gernot Böhme hat es in einem Vortrag sinngemäß so gesagt:
Politik will gestalten. Ihre Aussagen sind auf ihre Wirkung hin kalkuliert. Ob bei politischen Äußerungen alles faktisch stimmt, ist aus Sicht der Politiker relativ unwichtig. Der Gehalt an Tatsachen ist für sie abzuwägen gegen die Intention, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, meist öffentliche Unterstützung.
Weil das so ist, fällt den Medien die Rolle zu, die innewohnende Verzerrung der Wirklichkeit in Aussagen politischer Akteure zu erkennen und für die öffentliche Diskussion sichtbar zu machen.
Das sollte sich auch in einer Distanzierung von der Sprechweise, die politische Akteure vorgeben, ausdrücken. Nur dann ist eine aufgeklärte Debatte einer demokratischen Öffentlichkeit möglich.
Mit reinem Meinungsjournalismus ist dem Phänomen nicht beizukommen – im Gegenteil, das von der Politik kalkuliert erzeugte Bild wird dann noch bestätigt und verstärkt.
Mit dem Rückzug des Fachjournalismus und der sichtbaren Fokussierung auf einen allein "politischen" Journalismus, nimmt die Substanz öffentlicher Debatten deutlich ab. Dann wird, so die zunehmende Gefahr, allein in den kalkulierten sprachregelnden Vorgaben der politischen Akteure debattiert – an der Sache selbst geht es oft vorbei.
Geradezu beispielhaft ist dieses Sprechweisen-Phänomen der Politik an der aktuellen Debatte um die Revision der CO2-Regulierung von Kfz-Flotten in Europa sehen.
Ausgleichszahlungen heißen immer nur "Strafzahlungen"
Bisher plante die EU-Kommission eine Überprüfung der Flottenregulierung für 2026. Angesichts der aktuellen Krise der Autohersteller und ihrer Zulieferer in Europa hat die Kommission nun angekündigt, die Überprüfung vorzuziehen.
Hersteller von Pkw – genau genommen: Unternehmen, die Pkw "in Verkehr bringen", also auf dem europäischen Markt absetzen – haben für diese abgesetzte "Flotte" durchschnittliche CO2-Emissionswerte einzuhalten, die mit jedem Jahr niedriger werden. 2025 sinkt dieser Flottengrenzwert von rund 115 Gramm CO2 auf knapp 94 Gramm – pro Fahrzeug und gefahrenen Kilometer.
"Emission" ist dabei eng zu verstehen, entsprechend den (Sektor-)Vorgaben des Klimaregimes. Es geht, sach- und systemgerecht, allein um das CO2, das nach der Verbrennung aus dem Auspuff entlassen wird. Für 2035 liegt der gesetzliche Flottengrenzwert dann bei null – was als Verbrenner-Aus diskutiert wird.
Für den Fall, dass die Unternehmen versäumen zu tun, was sie bei den CO2-Werten zu tun haben, sind von ihnen Ausgleichszahlungen in möglicherweise erheblichem Umfang zu leisten.
Diese Ausgleichszahlungen stehen im Zentrum der politischen Debatte. Konsequent werden sie von der Politik als "Strafzahlungen" tituliert. So nennt sie der zuständige Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, so nennt sie auch der Ministerpräsident aus der Landeshauptstadt Stuttgart mit dem Stern, Winfried Kretschmann.
Die beiden Grünen-Politiker werben dafür, die Unternehmen von den angeblich drohenden Strafzahlungen zu entlasten, etwa indem diese zeitlich gestreckt werden oder indem der Grenzwert nur für einen Drei-Jahres-Durchschnitt von 2025 bis 2027 gilt.
Konservative wollen produzierte statt verkaufter Fahrzeuge anrechnen
Ein noch putzigerer Vorschlag kommt von der EVP-Fraktion, den Christdemokraten im Europaparlament. Danach sollen nicht nur "in Verkehr gebrachte" Pkw angerechnet werden, sondern auch "produzierte" , also auf den unternehmenseigenen Parkplätzen stehende, aber noch nicht verkaufte Fahrzeuge.
Wie das in einem offenen Pkw-Markt funktionieren soll, in dem produzierte Fahrzeuge sowohl exportiert als auch importiert werden, wissen wohl die Götter. Die Idee ist unpraktikabel.
Und nicht nur das: Der EVP-Vorschlag ignoriert, wie der Absatz von Neuwagen funktioniert. Autos ab Werk gehen überwiegend an betriebliche Flotten, Großhändler oder herstellereigene Autovermietungen. Nur eines von drei Fahrzeugen wird wirklich an private Abnehmer verkauft.
Insofern haben die Autohersteller nicht wirklich ein Problem, jede Menge Neuwagen zuzulassen. Ihr Problem ist eher das Weiterreichen als Gebrauchtwagen. Erst diese landen zu über 90 Prozent bei privaten Haltern. Da erst geht es wirklich darum, was ein Auto kostet.
Die Hersteller haben also kein Problem, den Absatz zu steigern – sie müssen nur die Preise senken. Solange sie damit "Strafzahlungen" vermeiden, haben sie auch einen großen Anreiz für Preissenkungen. Strafzahlungen aufzuschieben oder abzumildern, nimmt den Autokonzernen den Anreiz, Preise zu senken.
Zudem müssen die Unternehmen in dem Fall, dass sie die CO2-Vorgaben verfehlen, nicht automatisch "Strafen" in eine staatliche Kasse zahlen. Die wirtschaftsliberal denkenden europäischen Regulierer haben die Option eingeräumt, von konkurrierenden Unternehmen, die ihre CO2-Vorgaben übererfüllen, Erfüllungspunkte abzukaufen.
Da wurde ein Markt geschaffen, auf dem Emissionsminderungsverpflichtungen gehandelt werden. Auf diesem Markt gelten erfahrungsgemäß niedrigere Preise als der abschreckend gemeinte Höchstpreis einer "Straf"-Abführung an den Staat.
Hersteller, die das CO2-Limit einhalten, werden bestraft
Die Forderung der beiden Grünen Habeck und Kretschmann, die "Strafzahlungen" zu lockern, bedeutet im Klartext also: Sie wollen denjenigen Unternehmen, die ihre Klimapflichten übererfüllen, den Gewinn aus ihrem Geschäftsmodell nehmen.
Dass es solche Unternehmen gibt, zeigt sich auch daran, dass der Verband der europäischen Autohersteller Acea bisher zu keiner gemeinsamen Position kommt, um die Forderungen von Habeck und Kretschmann zu unterstützen. Dass die angeblich Begünstigten die Gunst nicht wollen, müsste einem Beobachter zu denken geben.
Jochen Luhmann
studierte Mathematik, Volkswirtschaftslehre und Philosophie und promovierte in Gebäudeenergieökonomie. Er war zehn Jahre als Chefökonom eines Ingenieurunternehmens und 20 Jahre am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie tätig. Er ist im Beirat der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler und dort Mitglied der Studiengruppe Europäische Sicherheit und Frieden.
In Wahrheit betreiben Habeck und Kretschmann Klientelpolitik. Sie versuchen ausgewählte Automobilunternehmen finanziell zu unterstützen. Diesen ausgrenzenden Charakter ihres Anliegens vernebeln sie mit ihrer Wortwahl "Strafzahlung".
Die EVP-Fraktion geht in ihrem Positionspapier von Mitte Dezember noch weiter. Sie fordert die Aufhebung des "Verbrenner-Verbots" und singt zur Begründung das hohe Lied der "Technologieoffenheit". Es ist ein später Gesang, schon in der anbrechenden Dämmerung.
Das sogenannte Verbrennerverbot ist Endergebnis einer Regulierung, die vor zwölf Jahren, eingeführt wurde, übrigens im Konsens mit der Automobilindustrie. In der Zeit davor galt eine Selbstverpflichtung der Autohersteller zur Minderung der CO2-Emissionen exakt dieses Designs – sie war gescheitert, nahezu erwartungsgemäß.
Nun gilt, dass ab 2035 aus dem Auspuff von neu zugelassenen Fahrzeugen kein CO2 mehr kommen darf. "CO2" ist dabei wörtlich zu nehmen. Auch wird zwischen "CO2" aus fossilen oder nichtfossilen Quellen nicht unterschieden.
Verbrennung ist chemisch gesehen die Anlagerung von Sauerstoff (O2) an das zu Verbrennende. Insofern bedeutet das "Verbrennerverbot" ganz klar: Der Kraftstoff darf keinen Kohlenstoff (C) mehr enthalten. Damit bleibt mit dieser Regulierung nur ein einziger C-freier Antriebsstoff erlaubt, und das ist Wasserstoff (H2).
Der wird zwar in einer Brennstoffzelle mit Sauerstoff zusammengebracht, das Ergebnis ist aber Wasser (H2O) – und Elektrizität. Die H2-Verbrenner-Variante ist ein Elektro-Pkw.
Die Kritik, diese vor vielen Jahren von der EU konzipierte Regulierung sei nicht technologieneutral, kommt aber erst jetzt auf, wo es wirklich darum geht, sich der Null-Emission zu nähern.
CO2-neutrale Verbrennung erfordert neue Treibstoffkategorie
Die Christdemokraten greifen bei ihren Einwänden gegen das "Verbrennerverbot" zwar tief in die Kiste des Grundsätzlichen, am Ende aber geht es lediglich darum, für Neuwagen, die nach 2035 auf den Markt kommen, sicherzustellen, dass diese noch mit C-haltigen Brennstoffen betankt werden können.
Der Kohlenstoff darf jedoch weder fossilen noch biogenen Ursprungs sein, denn auch letzteres bringt keinen klimaneutralen Kraftstoff hervor. Diese besondere Qualität des C-Kraftstoffs muss ab 2035 in einem Umfeld sichergestellt werden, in dem für Bestandsfahrzeuge weiterhin Benzin und Diesel aus fossilen Quellen an Tankstellen angeboten wird.
Es braucht also eine – möglicherweise diskriminierende – Kennzeichnung des neuen Kraftstoff-Angebots. Eine Lösung wäre analog zum steuerbegünstigten Heizöl vorstellbar. Dann würde eine zusätzliche Kategorie von "klimaneutralen Treibstoffen" geschaffen, die mittels Einfärbung unterscheidbar gemacht werden. Durch flächendeckende Kontrollen müsste eine einigermaßen korrekte Tankbefüllung zumindest statistisch sichergestellt sein.
Was die EVP-Fraktion, auf Basis der pilotartigen Vorstöße der Liberalen in Deutschland, jetzt gerne eingeführt haben möchte, müsste in der Praxis de facto das Verhalten der Kunden kontrollieren, die am Verbrennerprinzip mit Knall, Gestank und gesundheitsschädlichen Abgasen festhalten wollen.
Das erfordert zum einen einen erheblichen bürokratischen Aufwand – ausgerechnet gefordert von Parteien, die sich eine Entbürokratisierung auf die Fahne geschrieben haben.
Wichtiger aber scheint etwas anderes zu sein: Damit werden Betrugsmöglichkeiten in derart vielen Variationen geschaffen, dass eine korrekte Umsetzung unmöglich erscheint.
Es ist an der Zeit, dass bei der Forderung nach "Technologieneutralität" Pragmatismus einkehrt und die faktisch beschränkten Kapazitäten des Rechtsstaates zur Kontrolle von Warenströmen realistisch in Geltung gebracht werden.