Klimareporter°: Herr Niebert, Bundesverkehrsminister Volker Wissing hat mit Sonntagsfahrverboten gedroht, um zu erreichen, dass Grüne und SPD bei der Abschwächung des Klimaschutzgesetzes für den Verkehrsbereich mitmachen. Das hat er nun geschafft. Was halten Sie davon?
Kai Niebert: Es ist interessant, dass eine Freiheitspartei mit Verboten droht, statt Klimapolitik zu gestalten. Wenn sie freiheitliche Klimapolitik machen will, sollte sie zunächst die Steuerprivilegien für privat genutzte Dienstwagen in den Blick nehmen. Das würde das Klima und die Haushalte entlasten.
Und bevor man mit einem Fahrverbot droht, das man für undurchsetzbar hält, könnte man einfach Politik machen, für die es eine Mehrheit gibt: Mit einem Tempolimit auf Autobahnen und Fernstraßen ließe sich schon knapp die Hälfte der Klimalücke füllen – und es würde uns nebenbei noch von zu vielen Staus, Unfällen und Verkehrstoten befreien.
Der Verkehrsbereich ist das Haupt-Sorgenkind beim Klimaschutz, die Emissionen sind seit 1990 praktisch nicht gesunken. Die bisherigen Maßnahmen, aber auch alle Appelle, etwa, nicht auf SUVs umzusteigen oder weniger zu fliegen, fruchten nichts …
Der Versuch Klimapolitik, nur auf die Konsumenten abzuschieben, ist immer gescheitert – egal ob beim SUV oder beim Schnitzel. Als Bürger wollen wir Klimaschutz, als Konsumenten kaufen wir doch eher triebgesteuert. Solange SUVs und Schnitzel subventioniert werden, werden Appelle zu nachhaltigem Konsum an unser aller wirtschaftsbürgerlicher Kompetenz scheitern.
Die moralischen Appelle sollte man weglassen?
Wer versucht, mit Moralin die Menschen zu mehr Nachhaltigkeit zu bewegen, wird nicht nur scheitern, sondern auch spalten. Moral mag für den Gottesdienst gut sein, aber es ist kein klimapolitisches Leitinstrument.
Wenn ich mich erhaben fühle, weil ich mit meinem Veggieschnitzel und dem E‑Bike klimafreundlicher bin als du mit deinem alten Räucherdiesel und der Currywurst, nur weil du dir kein E‑Auto leisten kannst, dann führt das zu Abwertung und Abwehr.
Und wir treiben Menschen, die wir eigentlich für ein besseres Klima gewinnen wollen, den rechten Bauernfängern in die Arme.
Also, was tun?
Es braucht klare ökonomische und politische Leitplanken. Das können CO2-Preise, verkehrsberuhigte Zonen in Innenstädten und ein attraktiverer ÖPNV sein. Wer rauswill aus den fossilen Energien, muss Alternativen schaffen, statt einfach Fahrverbote zu verhängen. Interessant ist, dass eine nachfrageorientierte Politik im Verkehr durchaus wirken kann. Bis zu minus 70 Prozent CO2 sind hier nach Untersuchungen drin.
Der Rat für Nachhaltige Entwicklung, der die Bundesregierung berät und dessen Mitglied Sie sind, meint: Es braucht statt Appellen ans Individuum "systemische Lösungen". Das heißt konkret?
Kai Niebert
ist Präsident des Deutschen Naturschutzrings (DNR), des Dachverbandes der deutschen Umweltorganisationen, und Mitglied im Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE), der die Bundesregierung berät. Er hat die Professur für "Didaktik der Naturwissenschaften und Nachhaltigkeit" an der Universität Zürich inne. Niebert war unter anderem Mitglied der Kohlekommission und der Zukunftskommission Landwirtschaft der Bundesregierung. Der RNE hat jüngst ein Papier zur "Verantwortung von Staat und Gesellschaft für nachhaltige Lebenswelten" verabschiedet.
Wir brauchen weniger Wertedebatten und mehr nachhaltige Infrastrukturen – Infrastrukturen, die es mir ermöglichen, ein gutes, gelingendes, gerechtes Leben zu führen. Das heißt: Der Staat muss Leitplanken setzen, innerhalb derer es attraktiv ist, sich umwelt- und klimafreundlicher zu verhalten. Wir brauchen ganzheitliche Ansätze, um Nachhaltigkeit von einem Anschwimmen gegen den Strom zum Massensport zu machen.
Wie sieht das etwa im Verkehr aus? Oder bei der Ernährung?
Derzeit belohnen und bevorzugen wir klimaschädigendes Verhalten. Auto ist Standard, Fliegen ist Standard, Fleisch ist Standard. Und es geht darum, genau diese Baseline zu verändern. Ist die Baseline Fleisch mit irgendeiner Beilage oder ist die Baseline die nachhaltige Option?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wir haben einmal in einem Naturfreundehaus für Klassenreisen das vegetarische Mittagessen zum Standard gemacht. Natürlich konnte für einen geringen Aufpreis das Schnitzel hinzugebucht werden – das machte aber kaum jemand. Im Kleinen wie im Großen können Sie so einen Unterschied bewirken.
Aber bei stark steigenden Spritpreisen droht die "Benzinwut", und wenn das Kilo Schnitzel zwei Euro mehr kostet, gibt es auch Ärger. Oder nicht?
Ich durfte in der Zukunftskommission Landwirtschaft über die Schaffung von mehr Tierwohl mitverhandeln, also zum Beispiel bessere, größere und offene Ställe. Die Kommission hat dem Bundeskanzler daraufhin letzte Woche vorgeschlagen, die Mehrwertsteuer auf tierische Produkte anzuheben, um den Landwirten langfristige Investitionssicherheit für den Umbau ihrer Ställe zu bieten.
Wir haben dazu vorher die Zahlen analysiert: Die Menschen sind durchaus bereit, dafür mehr Geld auszugeben. Das werden übrigens nur wenige Cent und nicht zwei Euro pro Kilo. Ärger gibt es höchstens von der Bild-Zeitung, die eine Kampagne zulasten der Tiere und gegen den Willen der Verbraucher fährt.
Der Nachhaltigkeitsrat fordert, umweltschädliche Subventionen abzubauen, die laut Umweltbundesamt satte 65 Milliarden Euro jährlich ausmachen. Das wäre eine Finanzquelle für den Umbau. Was glauben Sie, wieso hält die Ampel an den Subventionen fest?
An jedem Subventionstatbestand hängt derzeit eine fossile Lobby. Die haben Einfluss. Oder große Traktoren. Oder beides.
Der Rat sagt auch: Es braucht "eine Weiterentwicklung der staatlichen Einnahme- und Ausnahmepolitik". Sind Sie für mehr Schulden?
Vor uns liegen wahnsinnig hohe Investitionen in die öffentliche Infrastruktur, um allen Menschen nicht nur ein nachhaltiges Leben zu ermöglichen, sondern auch um, zum Beispiel, ganz profan Schultoiletten zu sanieren. Wobei funktionierende Sanitäreinrichtungen auch ein Nachhaltigkeitsziel sind …
Da der Kreditrahmen des Staates im Moment nicht zu den vor uns liegenden Herausforderungen zu passen scheint, muss er angepasst werden. Die Aussetzung der Schuldenbremse ist kein Wert an sich. Aber ihre Weiterentwicklung ist notwendig, wenn wir die gemeinsam verabredeten Ziele und die Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie sichern wollen.
Sie haben analysiert, dass sozioökonomisch gleichere Gesellschaften in der Lage sind, Wohlstand mit wesentlich weniger Ressourcenverbrauch zu erwirtschaften als solche mit großem Reichtumsgefälle. Wie wollen Sie denn sicherstellen, dass die ärmeren Haushalte bei der Energie-, Verkehrs- und Ernährungswende nicht abgehängt werden?
Wir brauchen ein Klimageld. Es ist zwar keine klimapolitische silver bullet, aber eine notwendige Versicherung gegen soziale Härten bei der CO2-Bepreisung. Wir schlagen deshalb vor, ein regional gestaffeltes Klimageld zu prüfen, in dem diejenigen mehr bekommen, die auf dem Land keinen Zugang zum ÖPNV und zur Fernwärme haben. Das könnte helfen, die Schere zwischen Stadt und Land beim Klimaschutz zu schließen.