Barrierefreier Zugang ist auch bei Verkehrswende-Projekten nicht selbstverständlich. (Bild: Steve Buissinne/​Pixabay)

Im Graefekiez in Berlin-Kreuzberg wurden seit Juni 2023 Parkplätze umgewidmet, um den Stadtteil sicherer, sozialer und grüner zu machen und die Mobilität für alle zu verbessern. In zwei Straßenabschnitten wurden Parkplatzflächen entsiegelt und zu Beeten umfunktioniert oder mit sogenannten Kiezterrassen zum Verweilen und für die dortigen Kitas ausgestattet. Gleichzeitig wurden Lade- und Lieferzonen eingerichtet und Mobilitätsstationen mit Car-, Bike- und E‑Scooter-Sharing angeboten.

Die Forschungsgruppe Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) begleitet und evaluiert gemeinsam mit Wissenschaftspartner:innen die Maßnahmen des Bezirks. Dazu gehören qualitative Gruppen-Erhebungen, gefördert durch das Climate Change Center Berlin Brandenburg.

In den Gruppengesprächen kamen Personen zu Wort, die entweder von dem Vorhaben stark betroffen sind oder deren Perspektiven eher selten gehört und auch für die Verkehrswende immer wieder unterschätzt werden. Dabei handelt es sich nicht um eine repräsentative Erhebung, sondern um gesammelte Einzelstimmen. Dazu zählen unter anderem Senior:innen und Menschen mit Behinderungen.

Gruppengespräche mit Menschen aus dem Kiez

Zwischen August und Dezember 2023 wurden drei Gruppengespräche mit Menschen aus dem Kiez geführt, die sich als ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen von dem Projekt betroffen sehen. An den Gesprächen nahmen zwischen acht und 17 Personen teil.

Alle leben schon lange im Kiez, mindestens zehn und bis zu 50 Jahren. Bei Essen und Getränken sorgte eine entspannte Atmosphäre für konzentrierte Gespräche über die Probleme, Beobachtungen und Lösungsvorschläge.

Hauptgrund für das Graefekiez-Projekt ist, die Verkehrssicherheit zu erhöhen. Der Fokus liegt darauf, mit einer Neuaufteilung von öffentlichem Raum Nutzungskonflikte auf den Straßen zu reduzieren und dadurch sichere (Schul-)Wege zu schaffen. Aber: Bedeutet dies Sicherheit für alle?

Keine Verbesserung für Menschen mit Einschränkungen durch das Projekt

Einige Teilnehmer:innen kritisierten, dass die Maßnahmen im Projekt für die Sicherheit wenig brächten und zu teuer seien. Aufwendige Grünflächen würden geschaffen, aber die Gehwege nicht rollstuhlgerechter oder barrierefreier gemacht. Beim Vorantreiben der Verkehrswende würden so falsche Prioritäten gesetzt.

Bild: Christian Kielmann

Vanessa Rösner

ist wissen­schaft­liche Mitarbeiterin in der Forschungs­gruppe Digitale Mobilität und gesell­schaft­liche Differenzierung des WZB. Im Projekt Graefekiez ist sie für die wissen­schaft­liche Begleit­forschung zuständig. Ihr Fokus liegt auf trans­disziplinären und partizipativen Ansätzen zur Förderung der Nah­mobilität in Stadt­quartieren.

Aus Sicht der Teilnehmer:innen müssten daher zunächst bestehende Infrastrukturen sicher und barrierearm gestaltet werden. Denn vor allem die Zufußgehenden nehmen die Alltagswege häufig als nicht barrierefrei und gefährlich wahr. Die Angst vor Stürzen beeinträchtigt ihre Mobilität stark, sie kann ernsthafte Auswirkungen auf das tägliche Leben haben. Exemplarisch steht dafür ein Zitat:

"Das mit dem Zustand der Bürgersteige, das ist mir vorher schon aufgefallen, als ich wirklich noch viel besser zu Fuß und auch ziemlich schnell unterwegs war. Da bin ich manchmal mit der Fußspitze an so einem winzigen Vorsprung hängen geblieben, von irgendeiner Bodenplatte, und dann unter Umständen richtig nach vorne gestolpert. Also das ... fand ich schon ein bisschen riskant."

In den Gesprächen wurden nicht nur barrierefreie Zugänge und sichere Gehwege gefordert, sondern auch eine Anpassung der Verkehrsmittel und der Straßeninfrastruktur an die Bedürfnisse einer älteren beziehungsweise mobilitätseingeschränkten Bevölkerung.

Der eigene Pkw muss zu Fuß erreichbar sein

Zwar nutzen Menschen mit Mobilitätseinschränkungen zum Teil alle Verkehrsmittel, dem eigenen Pkw kommt aber eine hohe Bedeutung zu. Mit dem privaten Auto werden die Alltagswege erledigt, wenn die Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln oder des Fahrrads aufgrund physischer Barrieren nicht (mehr) möglich ist. Die Eigenständigkeit und Mobilität bleibt für diese Gruppe durch das private Auto erhalten:

"Ich bin aufs Auto angewiesen. Mein Leben funktioniert nicht mehr, wie es funktionierte ... Ich kann maximal gut 200 Meter laufen. Das (Projekt) macht das Viertel für mich unbewohnbar."

Mit zunehmendem Parkdruck im Kiez steigt dabei die Angst, den eigenen Pkw bald nicht mehr in unmittelbarer Nähe parken zu können. Eine nicht mehr mögliche fußläufige Erreichbarkeit des eigenen Pkw löst bei einigen Menschen Sorgen aus.

Der ÖPNV und die Sharing-Angebote sind nicht barrierefrei

Ein Konzept, das auf bessere Angebote und stärkere Nutzung des ÖPNV setzt, geht für viele mobilitäteingeschränkte Menschen nicht auf. Unzureichende Barrierefreiheit, fehlende Hilfsmittel und verschiedene Hindernisse machen den ÖPNV unattraktiv oder sogar unerreichbar.

Porträtaufnahme von Viktoria Scheidler.
Bild: David Außerhofer

Viktoria Scheidler

ist wissen­schaft­liche Mitarbeiterin am WZB. Ihre Inter­essen liegen vor allem in der Partizipation und Ein­bindung der diversen Gesell­schaft in die Forschungs- und Inno­vations­kultur.

So wurde in den Gesprächen der nächstgelegene U-Bahnhof Schönleinstraße von einem Teilnehmer als "Tor zur Hölle" bezeichnet. Bis heute gibt es dort keinen Aufzug und nur eine Rolltreppe in eine Richtung. Das erschwert für viele den Zugang zur U-Bahn oder macht ihn unmöglich.

Es gibt auch Kritik an alternativen und neuen Mobilitätsangeboten. Bei den innerhalb des Projekts angebotenen Elektrofahrrädern gibt es kein behindertengerechtes Modell. E‑Scooter werden eher als Behinderung auf den Gehwegen angesehen.

Auch die angebotenen Carsharing-Fahrzeuge würden den individuellen Bedürfnissen und Anforderungen von Menschen mit körperlichen Einschränkungen, wie hoher Einstieg, Platz für Gehhilfe oder erleichterte Lenkung, nicht gerecht, wurde in den Gesprächen betont. Geäußert wurden zudem Angst vor fehlender Verfügbarkeit und Bedenken wegen vermeintlich hoher Kosten.

Die Sharing-Angebote und Parkplätze, die flächendeckend im Kiez installiert wurden, werden folglich gar nicht als Alternative wahrgenommen.

Das Rad wird als gefährdend empfunden

Ein weiteres Problem, das angesprochen wurde, sind rücksichtslose Radfahrer:innen: "Weniger die Autos als vielmehr die Fahrradfahrenden sind das Problem", sagte eine Teilnehmerin – ein Thema, das sich durch alle Diskussionen zieht und viel Raum im Gespräch einnimmt. Insbesondere durch Radfahrende auf den Gehwegen entstünden Konflikte, wenn Fußgänger:innen ausweichen müssten:

"Ich bin hierhergekommen, langsam getappert ... und bin froh, dass ich nicht von drei Fahrrädern fast umgefahren wurde, sondern nur von zweien."

Auch das Überqueren der Straße sei für Ältere unsicherer geworden, da die schnell fahrenden Radfahrer:innen nicht zu hören seien. Und die Zahl der Radfahrenden steige beständig an. Der theoretische Schutzraum – der Gehweg – wird nicht nur durch bauliche Mängel wie nicht behobene Gehwegunebenheiten, sondern auch durch das illegale Radfahren zum Angstraum.

Beete und Stadtmöbel sind nicht nutzbar

Daneben äußerten die Teilnehmenden auch explizit Kritik an den aufgestellten Stadtmöbeln und Beeten. Diese seien teilweise nicht an die Bedürfnisse älterer Menschen angepasst. Die Kiezterrassen seien nicht gut für Personen im Rollstuhl erreichbar und nicht barrierefrei, obwohl sie Potenzial für das Verweilen im öffentlichen Raum und den nachbarschaftlichen Austausch böten.

 

Auch die entsiegelten Flächen, die zum gemeinschaftlichen Gärtnern einladen, seien durch ihre Gestaltung nicht für alle erreichbar. Schließlich wurde die geringe Versorgung des öffentlichen Raums mit Toiletten und der unzureichende Zugang zu ihnen bemängelt.

Barrierefreiheit muss der Maßstab sein

Ein Fazit aus den Gesprächen lautet: Mehr Sicherheit ist nicht gleich mehr Sicherheit für alle. Die Neugestaltung des öffentlichen Raums hat einen bitteren Beigeschmack für jene, die sich aufgrund von Alter oder physischen Einschränkungen von den Maßnahmen ausgeschlossen, verunsichert und manchmal sogar bedroht fühlen.

Das ehrgeizige Vorhaben, die Verkehrswende mit experimentellen Lösungen auf die Straße zu bringen, birgt die Gefahr der Exklusion. So können ältere Menschen und jene mit eingeschränkter Mobilität von den neu gestalteten öffentlichen Räumen ausgeschlossen werden, wenn die Planung nicht ihre speziellen Bedürfnisse berücksichtigt.

Bei Maßnahmen der Verkehrswende muss somit für deren Erfolg die Perspektive der Menschen mit Mobilitätseinschränkungen der Maßstab sein. Das bedeutet, Formate für Austausch zu schaffen, um blinde Flecken (blind spots) bei der Umgestaltung auszuschließen, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen und auf die steigenden Erfordernisse durch den demografischen Wandel vorbereitet zu sein.

Die Botschaft an die Kommunalpolitik lautet also: Ohne Barrierefreiheit ist alles nichts, und wenn man gezielt mit den Menschen redet, kann man ihre Erfahrungen einbinden.

 

Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem

Wie kommen wir in Zukunft von A nach B? Fest steht: Es geht nur radikal anders als bisher. Aber wie? Die Gruppe "Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem" entwickelt Ideen für die Mobilität von morgen. Hier schreiben Wissenschaftler:innen und Expert:innen über Wege in ein neues Verkehrssystem, das flüssig, bequem, gerecht und klimafreundlich ist – jenseits von Allgemeinplätzen und Floskeln. Das Dossier erscheint in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Die Beiträge werden auch im WZB-Blog der Forschungsgruppe veröffentlicht.