Menschen in Rollstühlen stehen vor einer Kulisse, die einen ICE darstellt, und zeigen, warum sie nicht hineinkommen. Auf einem Schild steht: Spontan reisen? Fehlanzeige!
Die Interessenvertretung "Selbstbestimmt Leben in Deutschland" veranschaulicht bei einer Protestaktion vor dem Brandenburger Tor in Berlin, wie Menschen mit Behinderung bei der Deutschen Bahn diskriminiert werden. (Foto: Julian Horn)

Am vergangenen Freitag fanden wieder zahlreiche Protestaktionen in ganz Deutschland statt, um die Rechte und die Inklusion von etwa 10,4 Millionen in Deutschland lebenden Menschen mit Behinderungen einzufordern. Der jährlich am 5. Mai stattfindende Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung feierte dieses Jahr sein 30-jähriges Bestehen.

Auch wenn die steigende Zahl an angemeldeten Demonstrationen – 1998 waren es etwa 100 Veranstaltungen, diesmal über 750 – auf eine gewachsene Aufmerksamkeit für dieses wichtige Thema hindeutet, gehören Inklusion und Barrierefreiheit im öffentlichen Raum immer noch nicht zum Standard in unserer Gesellschaft.

Zwar haben sich die letzten drei Bundesregierungen in den Koalitionsverträgen immer die "Förderung der barrierefreien Mobilität" auf die Fahne geschrieben. 2009 hat Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet und seit dem gleichen Jahr gibt es ein Bundesgesetz, welches besagt, dass der ÖPNV bis zum Jahr 2022 vollständig barrierefrei sein muss.

Doch es klafft wieder mal eine große Lücke zwischen dem politischen Versprechen, ein Menschenrecht zu wahren, und der infrastrukturellen Realität.

 

Die gemeinnützige Initiative "Sozialhelden" hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese Realität zu erfassen, und mehrere Projekte ins Leben gerufen, die es Menschen mit Behinderung erleichtern, sich im öffentlichen Raum zu bewegen. Zudem schafft sie Transparenz und deckt Missstände auf.

Die letzte Auswertung der Open-Source-basierten Karte "Wheelmap", auf der mobilitätseingeschränkte Personen Orte hinsichtlich ihrer Barrierefreiheit bewerten können, ergab, dass rund 40 Prozent der öffentlichen Orte in Deutschland gar nicht oder nur teilweise barrierefrei sind. Flächendeckende und gleichberechtigte Teilhabe sieht anders aus.

Eine Hauptstadt voller Barrieren

Dass der politische Druck offenbar noch nicht groß genug ist, die UN-Konvention endlich verkehrspolitisch umzusetzen, lässt sich gut am Beispiel der Stadt Berlin und der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) zeigen.

Das besagte Ziel, vollständige Barrierefreiheit im öffentlichen Nahverkehr zu erreichen, haben der Senat und die BVG sehr deutlich verfehlt. Von den 175 U-Bahnhöfen in Berlin sind momentan 34 nicht stufenlos zu erreichen. Gleiches gilt für sieben S-Bahn-Stationen.

Auf dem Bahnsteig der oberirdischen U-Bahn-Station Dahlem-Dorf ist der Fahrstuhl durch einen Wellblechzaun abgesperrt, daran ein Zettel: Aufzug außer Betrieb - 14. Februar bis 8. Juli 2022.
Der einzige Aufzug der zentralen U-Bahn-Station an der Freien Universität Berlin ist für fünf Monate gesperrt. (Foto: Julian Horn)

Die BVG scheint das Problem kaum aus der Ruhe zu bringen. Angaben, wann das Gesetz vollständig erfüllt wird, macht sie nur für rund die Hälfte der betroffenen U-Bahnhöfe.

Bei den S-Bahnhöfen wirken die Zeitangaben fast ignorant. Umbaumaßnahmen sind am Nöldnerplatz für 2026 geplant, in Hirschgarten 2027 und in Marienfelde sogar erst für 2029.

Die überlangen Wartezeiten müssen Betroffenen wie eine Diskreditierung vorkommen, hat man es doch auch geschafft, einen gesamten U-Bahn-Abschnitt vom Alexanderplatz zum Brandenburger Tor, dessen Bau zum selben Zeitpunkt wie die Verabschiedung des besagten Gesetzes im Jahr 2009 begann, schon Ende 2020 zu eröffnen.

Hinzu kommt, dass viele der Aufzüge in Berlin nicht funktionieren. Momentan sind es rund 30 Aufzüge, die zeitgleich defekt sind. Darunter ist der einzig vorhandene Aufzug an der zentralen U-Bahn-Station (Dahlem-Dorf) zum Campus der größten Bildungseinrichtung der Stadt, der Freien Universität Berlin.

Hier zeigt sich exemplarisch, dass die Barrieren im ÖPNV und das Versagen der Politik im Grunde ein Spiegel unserer von Ableismus – also der Diskriminierung der Menschen mit Behinderung – geprägten Gesellschaft sind und Inklusion noch lange nicht richtig in den Köpfen der Mehrheit angekommen ist.

Porträtaufnahme von Julian Horn.
Foto: privat

Julian Horn

studiert Zukunfts­forschung an der Freien Universität Berlin und ist Gast in der Forschungs­gruppe Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung des Wissenschafts­zentrums Berlin für Sozial­forschung (WZB). Sein Beitrag erscheint ebenfalls im WZB-Blog der Forschungs­gruppe Digitale Mobilität.

Letztlich ist eine klimagerechte Verkehrswende nur mit einer inklusiven und barrierefreien Verkehrspolitik zu haben, sind es doch nicht nur Menschen mit Behinderung, die von den Barrieren im öffentlichen Raum betroffen sind, sondern auch Menschen mit Kinderwagen, ältere Menschen oder weitere mobilitätseingeschränkte Personen.

Von der Bundesregierung bis zu den Verkehrsbetrieben sollten also alle Verantwortlichen daran arbeiten, die Missstände im öffentlichen Raum zu beseitigen und den Umbau von Verkehrseinrichtungen zu beschleunigen – und das Motto des diesjährigen Protesttages ernst nehmen: "Tempo machen für Inklusion – barrierefrei zum Ziel".

Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem

Wie kommen wir in Zukunft von A nach B? Fest steht: Es geht nur radikal anders als bisher. Aber wie? Die Gruppe "Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem" entwickelt Ideen für die Mobilität von morgen. Hier schreiben Wissenschaftler:innen und Expert:innen über Wege in ein neues Verkehrssystem, das flüssig, bequem, gerecht und klimafreundlich ist – jenseits von Allgemeinplätzen und Floskeln. Das Dossier erscheint in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).

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