Auf einer kopfsteingepflasterten Fläche wurden Hochbeete angelegt, Biertische und Bänke sowie ein Lastenrad stehen darauf, auf einer kleinen Rasenfläche sitzen einige Menschen und beraten.
Das Umnutzungsprojekt "Piazza Zenetti" in München war von Anfang an in übergreifende Mobilitätsstrategien eingebunden. (Foto: Green City e.V.)

Realexperimente im Verkehr sind zeitlich begrenzte Praxisversuche unter Beteiligung von Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft. Das "reale" Erforschen und Erleben von Veränderungen ist mit großen Erwartungen verbunden. Gelungene Realexperimente können weitergehende Transformationsprozesse anstoßen.

Genau dazu sollen sie Wissen generieren und finden – angesichts der für den Klimaschutz dringend benötigten Fortschritte im Verkehr – in der Verkehrs- und Stadtplanung erhebliche Aufmerksamkeit.

In Studien konnte weltweit gezeigt werden, dass Realexperimente in städtischen Umgebungen trotz unvermeidbarer Konflikte oft zu positiven lokalen Effekten geführt haben. Dazu zählen eine ansteigende Nachbarschaftsaktivität, erhöhte Verkehrssicherheit, nachweislich sauberere Luft, Reduzierung des Autoverkehrs sowie die Möglichkeit zur Entsiegelung, Begrünung und schließlich der Schaffung von mehr Platz für die Menschen in ihren Stadtvierteln.

Ein Experiment hat den Vorteil, dass politische Maßnahmen im ständigen Prüfprozess mit Hilfe von Wissenschaft und Zivilbevölkerung angepasst und verbessert werden können.

Während also die lokalen Vorteile "im Kleinen" und ein Mehrwert für Nachbarschaften und Kieze auf der Hand liegen, blieb der Beitrag zum "großen Ganzen", zu einer nachhaltigen und sozial gerechten Mobilitätwende, bisher unklar.

Dieses Transformationspotenzial hat nun die Sozialwissenschaftlerin Katherine VanHoose von der Universität Amsterdam mit einem Forschungsteam anhand von sechs Realexperimenten in Deutschland und den Niederlanden in einer Studie untersucht.

Nettes Projekt auf Zeit oder Teil einer Veränderungsstrategie?

Die Studie zeigt zunächst: Die Effekte von Realexperimenten sind so vielfältig wie die Projekte selbst. Wichtig ist, in welchem Spannungsfeld sich Realexperimente bewegen. Je radikaler, kommunikativer, mobilisierender die Experimente insgesamt angelegt waren, desto größer ist ihr möglicher Beitrag zur Mobilitätstransformation.

Wirkung zeigte zum Beispiel das Projekt "Umparken Schwabing" in München. Dort tauschten Anwohner:innen ihr eigenes Auto für einen Monat gegen ein Mobilitätsbudget. Das Entfernen von Fahrzeugen zugunsten erhöhter Aufenthaltsqualität wurde als sehr positiv bewertet und stieß auf allgemeine Akzeptanz.

Porträtaufnahme von Julian Horn.
Foto: Die Hoffotografen

Julian Horn

hat Zukunfts­forschung studiert und ist Teil der Forschungs­gruppe "Experi", die die Umsetzung des Berliner Mobilitäts­gesetzes erforscht und dazu mehrere Real­experimente trans­disziplinär begleitet. Sein Beitrag erscheint auch im Blog von Experi.

Dieser Effekt war auch in der ersten Amsterdamer "Living Street", der Hugo de Grootkade, zu beobachten. Dabei wurde eine Straße im westlichen Amsterdam für vier Wochen für den motorisierten Verkehr geschlossen. Hier bestätigten sich auch die genannten positiven Wirkungen einer erhöhten Nachbarschaftsaktivität.

Bei beiden Experimenten fehlte aber den Forscher:innen zufolge eine sinnvolle Einbindung in bestehende und langfristige Mobilitätsstrategien. Auch wurden in einigen Projekten Auswertungen und gewonnene Erkenntnisse nicht gründlich analysiert und in übergreifenden Mobilitätskonzepten berücksichtigt. Dies ist für Realexperimente jedoch entscheidend, wenn sie zu einem realen Wandel beitragen sollen.

Das Projekt der "Piazza Zenetti" in der Münchner Isarvorstadt hat es vorgemacht: Hier sollten ungenutzte Parkflächen wieder nutzbar und als Standorte für geteilte Mobilität getestet werden. Das Projekt war von Beginn an in größere Mobilitätsstrategien wie die "Münchner Sommerstraßen" eingebunden. Nicht zuletzt war die Stadt München als Initiatorin von Beginn an der Auswertung der Ergebnisse und den "Lessons Learned" interessiert.

Wenn das Realexperiment schon bei der Genehmigung stolpert

Realexperimente bringen trotz einiger Widrigkeiten und Konflikte Vorteile für die lokale Nachbarschaft. Wer einmal tatsächlich erlebt hat, wie öffentliche Räume anders genutzt werden können als dort nur überdimensionierte Blechkisten abzustellen, möchte diese Erfahrung meist nicht mehr missen.

 

Zur Wahrheit gehört aber auch: Je radikaler das Realexperiment, desto schwieriger ist seine Popularisierung. Denn die herrschenden Rahmenbedingungen stehen dem ja entgegen. Wäre das nicht so, bräuchte es auch keine Realexperimente.

Daher stellt sich die Frage, was kommende Projekte wie im Berliner Graefekiez, wo Parkplätze in einem moderierten Beteiligungsprozess an die Nachbarschaft zurückgegeben werden sollen, von den bisherigen Realexperimenten lernen können.

Die Studie zeigt nämlich auch, dass die Rahmenbedingungen für viele Experimente zu ungünstig waren, um ihr tatsächliches Transformationspotenzial zu entfalten. Beispielsweise wurde das Einholen von Genehmigungen für anderweitige Nutzungsmöglichkeiten der Straße neben dem privaten Pkw als zeitaufwendigste und herausforderndste Aufgabe bewertet.

Für die Planung und Durchführung künftiger Realexperimente kommt es also darauf an, sich an die jeweiligen lokalen Kontexte und städtischen Gegebenheiten anzupassen und weiterhin an der Novellierung der rechtlichen Grundlagen zu arbeiten. Denn klar ist nur eines: Die Zeit drängt, um zur Mobilitätswende zu kommen.

Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem

Wie kommen wir in Zukunft von A nach B? Fest steht: Es geht nur radikal anders als bisher. Aber wie? Die Gruppe "Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem" entwickelt Ideen für die Mobilität von morgen. Hier schreiben Wissenschaftler:innen und Expert:innen über Wege in ein neues Verkehrssystem, das flüssig, bequem, gerecht und klimafreundlich ist – jenseits von Allgemeinplätzen und Floskeln. Das Dossier erscheint in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).

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