Der Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg hat im Frühjahr 2022 in der Bezirksverordnetenversammlung beschlossen, im Graefekiez Parkflächen umzunutzen, damit der Stadtteil sicherer, sozialer und grüner werden kann. Gleichzeitig sollen Lade- und Lieferzonen eingerichtet und sechs "Jelbi"-Stationen der Berliner Verkehrsbetriebe mit Car-, Bike- und E-Scooter-Sharing angeboten werden. Jetzt hat das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), unterstützt vom Climate Change Center Berlin Brandenburg (CCC), eine erste Zwischenbilanz vorgelegt.

Die Forschungsgruppe Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung des WZB evaluiert gemeinsam mit Wissenschaftspartner:innen die Maßnahmen des Bezirks. Mit qualitativen Erhebungen – Interviews und Fokusgruppen – sowie mit einer quantitativen Befragung* im Kiez wurde vor dem Start der Baumaßnahmen unter anderem die Haltung der Bevölkerung erfasst und ausgewertet.

Die ersten Ergebnisse liegen nun vor: Die Mehrzeit unterstützt die Pläne des Bezirks, aber es gibt auch Vorbehalte und vieles ist noch ungewohnt. Die Erhebungen sollen im laufenden und im nächsten Jahr weitergeführt werden.

Porträtaufnahme von Theresa Pfaff.
Foto: Martina Sander-Blanck/​WZB

Theresa Pfaff

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschungs­gruppe Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung des Wissenschafts­zentrums Berlin (WZB).

Der Kiez wurde nicht zufällig ausgewählt. Der Kfz-Bestand ist hier mit 181 Autos auf 1.000 Einwohner:innen im Vergleich zu anderen Berliner Bezirken oder gar zu anderen Großstädten sehr gering, aber bei 30.000 Einwohner:innen pro Quadratkilometer prägt dennoch eine hohe Zahl von parkenden Fahrzeugen das Erscheinungsbild.

Allerdings wird das Auto, selbst gefahren oder zur Mitnahme, nur noch für neun Prozent der täglichen Wege eingesetzt. Das Fahrrad ist mit 57 Prozent das am häufigsten genutzte Verkehrsmittel, der ÖPNV ist mit 28 Prozent beteiligt. Hauptsächlich bewegen sich die Befragten aber ohne Verkehrsmittel: Rund 70 Prozent sind täglich zu Fuß unterwegs. Mehrfachnennungen waren möglich. Selbst Leihräder und E-Scooter finden sich mit rund zwei Prozent noch in den Nennungen.

Die Spuren der Autogesellschaft sind dominant und finden sich nicht nur im Stadtbild. Rund 82 Prozent der Befragten besitzen einen Führerschein und 42 Prozent der Haushalte verfügen über ein Auto. Nur leicht darüber liegt mit 46 Prozent der Anteil derer, die Zeitkarten für den öffentlichen Verkehr besitzen.

Die hohe Dichte an Kneipen, Einkaufsgelegenheiten, Schulen und Kitas schafft zwar eine ansprechende Urbanität, so dass der Graefekiez von mehr 70 Prozent als sehr angenehme Wohngegend eingeschätzt wird, aber rund 25 Prozent sehen im Verkehr ein Problem, das besonders mit Blick auf Ältere und Kinder gelöst werden muss.

Deutliche Zustimmung für Parkplatz-Umnutzung

Die Zustimmungswerte zu den geplanten Maßnahmen des Bezirks fallen in der Befragung entsprechend der Verkehrsmittelnutzung hoch aus. Eine geplante Sperre am Hohenstaufenplatz zur Vermeidung von Durchgangsverkehr wird von mehr als 60 Prozent begrüßt, nur 21 Prozent bewerten diese Maßnahme als "sehr schlecht".

Die Umnutzung von Kfz-Abstellflächen für eine Begrünung erhält eine klare Zustimmung von 50 Prozent ("sehr gut") und eine Ablehnung von 25 Prozent ("sehr schlecht"). Die geringste Unterstützung finden mehr Sitzflächen: 43 Prozent der Befragten sind dafür und 27 Prozent dagegen. Selbst die Einrichtung von Lade- und Lieferzonen findet die Zustimmung von mehr als 60 Prozent, lediglich zwölf Prozent sind ausdrücklich dagegen.

Foto: David Außerhofer

Andreas Knie

Der Sozial­wissen­schaftler mit den Schwer­punkten Wissen­schafts­forschung, Technik­forschung und Mobilitäts­forschung lehrt an der TU Berlin und leitet die Forschungs­gruppe Digitale Mobilität am WZB. Er ist Mitglied im Herausgeberrat von Klimareporter°.

Die geplanten Sharing-Stationen werden dagegen von 30 Prozent der Befragten kritisch gesehen, während rund 37 Prozent sie eher befürworten. Vermutlich hängen die im Vergleich zu den anderen Maßnahmen geringen Zustimmungswerte auch damit zusammen, dass die neuen Stationen in erster Linie mit E‑Scootern assoziiert werden, deren Reputation im Kiez nicht die höchste zu sein scheint.

Insgesamt bestätigen sich damit auch die Werte einer repräsentativen Untersuchung des WZB aus dem Jahr 2021, die allerdings im gesamten Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg durchgeführt wurde. Damals hatten 54 Prozent der Befragten der Aussage zugestimmt, dass die Umwidmung von Parkplätzen für andere Nutzungen eine dringliche Angelegenheit sein sollte.

Dass die Zustimmungswerte nicht abgesunken sind, ist umso erstaunlicher, weil seit der ersten Befragung das Thema Parkraumnutzung im Graefekiez heftig diskutiert wurde und mehrfach Thema öffentlicher Auseinandersetzungen war.

In den Fokusgruppen sind Menschen zu Wort gekommen, die sich zum Teil dezidiert gegen diese Umnutzung aussprechen. Es handelt sich um Menschen mit Mobilitätseinschränkungen und um Gewerbetreibende, die bisher den öffentlichen Raum zum Parken von Geschäftsfahrzeugen nutzen konnten.

Es braucht mehr Beispiele einer gelingenden Verkehrswende

Zusammenfassend zeigt sich, dass die Autobesitzer:innen im Graefekiez das eigene Kfz zum großen Teil als eine Art Mobilitätsreserve nutzen. Die täglichen Wege werden meist ohne Auto zurückgelegt, aber gelegentlich wird das Fahrzeug doch gebraucht. Das Nutzungsmuster der Mobilitätsreserve ist vor allem deshalb sehr bequem, weil es keine Parkraumbewirtschaftung im Kiez gibt.

 

Es kostet also nichts, das eigene Auto über Tage, Wochen oder Monate auf öffentlichen Flächen abzustellen. Private Stellflächen könnten für einen monatlichen Preis von 50 bis 100 Euro angemietet werden, das wird aber als zu teuer angesehen. Ob die bisher wenig bekannten Carsharing-Angebote durch die bessere Präsenz im öffentlichen Raum an den Jelbi-Stationen der Verkehrsbetriebe zu einer Alternative für diese Gruppe werden können, müssen die nächsten Monate zeigen.

Freie Flächen werden mehrheitlich begrüßt, aber es bleiben Zweifel an einer produktiven Nutzung für den eigenen Bedarf. Befürchtungen vor einer weiter steigenden Gentrifizierung genauso wie die Angst vor mehr Lärm und mehr Müll durch eine touristische Nutzung bleiben auf der Tagesordnung.

Die bisherigen Ergebnisse machen dennoch deutlich, dass die geplanten und teilweise in der Umsetzung befindlichen Maßnahmen auf ein positives Echo stoßen, wenngleich vielen noch nicht ganz klar ist, wie die neue Stadt dann am Ende aussehen könnte.

Obwohl der Graefekiez wie kaum ein anderes Quartier eine fast marginale Autonutzung aufweist, bleibt das Auto ein Orientierungspunkt im Denken und Handeln der dort Wohnenden. Dies deutet darauf hin, dass für das Gelingen der Verkehrswende mehr positive Bilder, aber auch Praktiken und Erfahrungen gebraucht werden, um alte Selbstverständlichkeiten aufzubrechen. Denn der offenbar weiter bestehende Auto-Fokus ist so etwas wie ein Phantomschmerz über den Verlust eines Gegenstandes, der keinen Sinn mehr hat.

 

* Für die quantitative Befragung wurde eine Bruttostichprobe aus dem Einwohnermelderegister ausschließlich im Graefekiez und in den unmittelbaren Randgebieten gezogen. Eine Rücklaufquote von 18 Prozent ergab eine Nettostichprobe von 1.341 Befragten. Bei einem ausgewogenen Geschlechterverhältnis beträgt das Durchschnittsalter 49 Jahre. Die Befragten verteilen sich wie folgt auf Altersgruppen: 16 bis 29 Jahre – neun Prozent, 30 bis 44 Jahre – 34 Prozent, 45 bis 59 Jahre – 30 Prozent, 60 Jahre und älter – 25 Prozent. 28 Prozent leben allein, 35 Prozent in einem Zwei-Personen-Haushalt, 35 Prozent mit drei oder mehr Personen im Haushalt. 68 Prozent haben einen Hoch- oder Fachhochschulabschluss, 89 Prozent mindestens die (Fach-)Hochschulreife. Bis Mitte November 2023 wurden fünf Fokusgruppensitzungen mit mehr als 50 Teilnehmenden sowie rund 100 Einzelinterviews durchgeführt.

Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem

Wie kommen wir in Zukunft von A nach B? Fest steht: Es geht nur radikal anders als bisher. Aber wie? Die Gruppe "Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem" entwickelt Ideen für die Mobilität von morgen. Hier schreiben Wissenschaftler:innen und Expert:innen über Wege in ein neues Verkehrssystem, das flüssig, bequem, gerecht und klimafreundlich ist – jenseits von Allgemeinplätzen und Floskeln. Das Dossier erscheint in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Die Beiträge erscheinen zugleich im WZB-Blog der Forschungs­gruppe Digitale Mobilität.

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