Zufußgehen ist das älteste und einfachste Verkehrsmittel der Welt.

Geht es um sozial gerechte und nachhaltige Mobilität, wird der Fußverkehr oft unterschätzt, auch weil er in den letzten Jahrzehnten immer mehr an Bedeutung verlor. Legten in Deutschland kurz nach der Jahrtausendwende die Menschen noch knapp ein Viertel (24 Prozent) aller Wege zu Fuß zurück, waren es 2017 nur noch 20 Prozent.

Die Gründe für den stetigen Rückgang sind vielfältig. In Städten sind es unter anderem Lärmbelastung, Luftverschmutzung oder Sicherheitsaspekte. Auch Gewohnheiten spielen eine Rolle.

Balkendiagramm: Der Anteil des Fußverkehrs in Deutschland stieg im Corona-Jahr 2020 sprunghaft von 21 auf 34 Prozent, um danach auf 25 Prozent abzusinken und dort zu verbleiben.
Anteil "zu Fuß gehen/​Rollstuhl nutzen" an allen zurückgelegten Wegen in Deutschland. (Bild: Julian Horn; Quelle: Statista 2023)

Die Corona-Pandemie brachte das Zufußgehen wieder zurück auf die Agenda. In Zeiten von Lockdowns und Isolationspflicht blieb oft nichts anderes übrig als der Spaziergang im Park, um den Block oder zum Supermarkt. Während der starken Lockdown-Phase 2020 sprang der Anteil des Fußverkehrs an allen zurückgelegten Wegen auf einen Rekordwert von 34 Prozent, so hoch wie seit Jahrzehnten nicht mehr.

Dieser positive Trend setzte sich in den letzten Jahren fort, auch weil Städte Strategien zur Förderung des Fußverkehrs vorantreiben, um den Problemen des autozentrierten Verkehrssystems zu begegnen. Berlin erließ 2021 als erste deutsche Stadt ein Gesetz zur Förderung des Fußverkehrsnetzes.

Zu Fuß zu gehen ist gesund, platzsparend, erzeugt weder Lärm noch Feinstaub und bringt auch aus einer Perspektive der sozialen Gerechtigkeit Vorteile mit sich. Denn zu Fuß gehen oder mit dem Rollstuhl fahren können fast alle Menschen, unabhängig von Alter, Geschlecht, Verfügbarkeit eines Autos oder ökonomischem Status.

Barrieren diskriminieren und schließen aus

Aber eben auch nur fast. Nicht alle können diese Mobilitätsform gleich gut nutzen, weil Städte eben nicht für alle Menschen gebaut wurden.

In einer kürzlich durchgeführten, noch unveröffentlichten Studie wurden Menschen mit Behinderung auf ihren alltäglichen Routen in Berlin begleitet.

Ergebnis der "mobilen Interviews": Menschen, die Hilfsmittel wie einen Rollstuhl oder Langstock nutzen, werden von unzähligen Barrieren im öffentlichen Raum behindert und sind zusätzlichen Risiken für ihre Sicherheit ausgesetzt.

Porträtaufnahme von Julian Horn.
Bild: Die Hoffotografen

Julian Horn

hat Zukunfts­forschung studiert und ist wissen­schaft­licher Koordinator in der Forschungs­gruppe "Digitale Mobilität und gesell­schaft­liche Differenzierung" des Wissen­schafts­zentrums Berlin für Sozial­forschung (WZB). Seine Schwer­punkte sind Diskriminierung und Aus­grenzung durch Barrieren im öffent­lichen Raum sowie die Um­gestaltung von Stadt­raum aus der Perspektive von Menschen mit Behinderung.

Dazu zählen schlecht oder nicht abgesenkte Bordsteine, fehlende Rampen an Treppen oder höhere Kanten, die besonders häufig bei Baustellen vorzufinden waren.

Einer der begleiteten Personen blieb der direkte Weg zu einer S-Bahn-Station verwehrt, weil neben einer Treppe eine Rampe fehlte.

Eine andere Person musste an einer Erhebung auf dem Gehweg umkehren, weil das Passieren mit dem Rollstuhl nicht möglich war.

Neben den Barrieren bestehen für Menschen mit Behinderung zusätzliche Sicherheitsrisiken. So ist nur die Hälfte aller Ampeln in Berlin barrierefrei. Das kann Menschen mit Sehbehinderung bei der Überquerung von Straßen vor eine große Herausforderung stellen.

Schon diese wenigen Beispiele verdeutlichen, wie Menschen im öffentlichen Stadtraum diskriminiert und ausgegrenzt werden. Weitere Studien belegen, dass sie manche Wege gar nicht erst antreten und somit langfristig auch von sozialer Teilhabe und Partizipation im Stadtraum abgehalten werden.

Alle Teilnehmenden der Studie in Berlin brachten ihren Unmut darüber zum Ausdruck und bemängelten fehlenden politischen Willen, die Verhältnisse zu ändern: "Ich habe das Gefühl, wir sind der Politik scheißegal", so ein Teilnehmer.

Menschen mit Behinderung als "unheimliche Strategen"

Auch die im Berliner Stadtbild überpräsenten E‑Scooter zeigen, dass Menschen mit Behinderung in der Mobilitäts- und Stadtplanung oft nicht mitgedacht werden. Auf dem Gehweg liegend oder vorbeirasend können die Roller für Menschen mit Sehbehinderung zur Gefahr werden.

2022 klagte der Allgemeine Blinden- und Sehbehindertenverein (ABSV) gegen die Sondernutzungserlaubnis für E‑Scooter. Leider ohne Erfolg, denn ein Verbot nach Pariser Vorbild scheint in Berlin politisch nicht gewollt.

 

Menschen mit Behinderung müssen sich tagtäglich mit einem behindertenfeindlichen Mobilitätssystem und einem öffentlichen Raum voller Barrieren und Risiken auseinandersetzen. Sie sind gezwungen, Anpassungsmechanismen zu entwickeln.

Das geschieht zum einen auf individueller Ebene: "Wir sehen uns ja nicht auf der hilflosen Position, sondern wir sind unheimliche Strategen", sagte eine Teilnehmerin. Andere berichteten, dass sie sich ihrer Umgebung ohnehin anpassen und "schon immer irgendwie ihre Wege finden" würden.

Zum anderen versuchen unterschiedliche Initiativen und Organisationen den Barrieren auf kollektiver Ebene zu begegnen. Der Verein Sozialheld:innen betreibt die Online-Karte "Wheelmap", in der öffentliche Orte nach ihrer Barrierefreiheit bewertet werden. Die Karte soll in Zukunft auch Informationen zu Bodenbeschaffenheit oder Beleuchtung enthalten.

Zusätzliche Barrieren durch nicht sozial gerechte Mobilitätswende

Alles in allem gibt es bereits umfangreiches Wissen darüber, welche Barrieren und Sicherheitsrisiken Menschen mit Behinderung ausgesetzt sind, wenn sie sich zu Fuß oder mit dem Rollstuhl durch die Stadt bewegen.

Dieses Wissen und die Bedürfnisse von behinderten Menschen sollten in die Gestaltung des öffentlichen Raums einfließen. Das passiert bisher jedoch nicht.

Der zweite Mobilitätsbericht Berlin der Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention hat ergeben, dass die Umgestaltung des öffentlichen Stadtraums nicht genutzt wird, diesen auch barriereärmer zu machen – eher entstehen für viele Menschen mit Behinderung neue Barrieren. Beispielsweise führt an vielen Orten der Wegfall von Parkplätzen für behinderte Menschen oder die Sperrung bestimmter Straßen für Pkw zu neuen Problemen für Menschen, die auf das Auto angewiesen sind.

Dass diese Perspektiven und Bedürfnisse in der Stadt- und Raumplanung immer noch nicht hinreichend berücksichtigt werden, hat auch eine aktuelle Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung im Berliner Graefekiez nochmals bestätigt.

Letztlich bleibt nur der Appell an Verkehrspolitik und -planung, Menschen mit Behinderung stärker und früher in die Gestaltung und Umgestaltung öffentlicher Räume einzubeziehen. Nur so kann langfristig eine Mobilitätswende erreicht werden, die inklusiv und sozial gerecht ist und barrierearme Städte schafft.

 

Die Studie, auf die sich der Text hauptsächlich bezieht, ist mit Unterstützung des DLR Instituts für Verkehrsforschung im Rahmen des Projekts "Experi" entstanden, wo dieser Artikel ebenfalls veröffentlicht wurde.

Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem

Wie kommen wir in Zukunft von A nach B? Fest steht: Es geht nur radikal anders als bisher. Aber wie? Die Gruppe "Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem" entwickelt Ideen für die Mobilität von morgen. Hier schreiben Wissenschaftler:innen und Expert:innen über Wege in ein neues Verkehrssystem, das flüssig, bequem, gerecht und klimafreundlich ist – jenseits von Allgemeinplätzen und Floskeln. Das Dossier erscheint in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).