Städte differenzieren sich auch im digitalen 21. Jahrhundert räumlich immer weiter aus. Diese Entwicklung ist seit dem 19. Jahrhundert zu verfolgen, Generationen von Stadtsoziolog:innen haben sie beschrieben und analysiert. Die soziale und räumliche Differenzierung der Städte geht einher mit einer drastisch zunehmenden Mobilität ihrer Bewohner:innen.
Um Bebauung und Zersiedlung räumlich zu begrenzen, hat die Stadtplanung es jahrzehntelang mit der Verdichtung in den Innenstadträumen versucht, also dem Bebauen von Baulücken und anderen Freiflächen.
Dahinter stand auch die Idee der "Stadt der kurzen Wege": Die verdichtete Stadt sollte es ihren Bewohnerinnen und Bewohnern ermöglichen, Arbeitsstätten, Versorgungseinrichtungen und Dienstleistungen zu Fuß, mit dem Rad oder dem öffentlichen Verkehr in 15 bis 20 Minuten von ihrer Wohnung aus zu erreichen.
Doch die empirischen Daten belegen eine gegenteilige Entwicklung. Die seit Jahrzehnten laufende Untersuchung "Mobilität in Deutschland" zeigt, dass die zurückgelegten Wege in und zwischen den Städten nicht kürzer, sondern immer länger wurden: Von 2002 bis 2017 nahm die mittlere Wegelänge von zehn auf 19 Kilometer zu, die Tagesstrecke pro Person stieg von 33 auf 38 Kilometer.
Erst Corona stoppte die Entwicklung. Im Jahr 2022 lag die Fahrleistung immer noch um 5,8 Prozent unter dem Niveau von 2019. Ob dies jedoch eine grundlegende Trendumkehr einleitet und die Wege dauerhaft kürzer werden, ist fraglich – zu dominant erscheinen die Megatrends der weiter ausdifferenzierten Siedlungsplanungen.
Gemischte Quartiere sollen Verkehr vermeiden
Aus diesem Grund fordern die Planer:innen, Neubauviertel und Konversionsflächen als "gemischte Quartiere" auszuweisen, also als Viertel, in denen sich sowohl Wohnungen als auch Gewerbe, Handel, Gesundheits- und Freizeiteinrichtungen befinden. Auf diese Weise sollen die notwendigen Wege reduziert werden und der Verkehr abnehmen.
Dazu sind entsprechende Vorgaben in der Bauleitplanung und in den Flächennutzungsplänen nötig. Denn nach den üblichen, von den Vorstellungen des modernen Städtebaus geprägten Verfahren sind Gewerbe- und Wohngebiete meist strikt getrennt. Das eine wird im anderen nicht genehmigt.
Diese Praxis stammt aus der Zeit, als noch Kohle-, Stahl- und andere "schmutzige" Industrien die Stadtlandschaften prägten. Die Behörden wollten damals die arbeitende Bevölkerung wenigstens in ihren Wohnungen vor den schädlichen Emissionen der Industrie schützen. Ein seinerzeit durchaus progressiver Ansatz, um die Wohnqualität der Städte zu erhöhen.
Heutzutage, so die Argumentation vieler Planer:innen, gibt es die schmutzigen Industrien in Deutschland nicht mehr. Zumindest nicht in dem Umfang, dass die rigide Trennung von Arbeiten, Wohnen und Freizeit sowie ihre Verbindung mit dem motorisierten Verkehr städtebaulich aufrechterhalten werden müsse.
Aufgrund dieser Annahmen wurde im Jahr 2017 die auf Bundesebene rahmengebende Baunutzungsverordnung geändert und die Ausweisung von gemischten Gebieten erleichtert.
Doch in der Praxis hat sich bisher nicht viel getan. Neue Wohngebiete werden nach wie vor monofunktional, bevorzugt an den Rändern der Großstädte, gebaut. Gewerbeparks entstehen in allen Gemeindetypen – meist mit nicht produzierendem, sondern handelndem Gewerbe – großflächig auf der grünen Wiese und sind nur mit dem Auto und dem Lkw gut zu erreichen. So weit, so schlecht.
Schwammstadt hat wenig Chancen auf dem Bodenmarkt
Angesichts des fortschreitenden Klimawandels muss die Stadt- und Regionalplanung versuchen, der weiteren Versiegelung und Zersiedlung von Flächen entgegenzusteuern. Das aktuell ausgerufene Konzept der Schwammstadt steht der Strategie der Nachverdichtung ebenfalls im Weg: Die letzten Freiflächen in den Großstädten sollen nun nicht mehr mit zusätzlichem Wohnraum bebaut, sondern begrünt werden. Ziel ist es, die City-Bereiche resilient gegen den Klimawandel zu machen.
Martin Gegner
ist als Politologe und Stadtsoziologe Mitglied der Forschungsgruppe "Digitale Mobilität und soziale Differenzierung" am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Zuvor war er an verschiedenen Wissenschaftsinsititutionen sowie als Gastprofessor in São Paulo und Istanbul tätig.
Aber die hohen Bodenpreise in den Innenstädten der Metropolen unterminieren auch dieses Konzept, da ein privater Investor bei wachsender Wohnungsnot nach geltendem Baurecht doch eher verdichten wird. Denn es wollen ja immer mehr Menschen in die großen Städte ziehen.
Die Mehrzahl der Wohnungsneubauten dürfte daher auch weiterhin an den Stadträndern projektiert werden, wo es noch größere Freiflächen gibt. Für die zukünftigen Bewohnerinnen und Bewohner dieser Siedlungen sind die weiten Wege in die Innenstädte, wo sich die meisten Arbeitsplätze befinden, damit schon vorgezeichnet. Das bedeutet eine weitere Zunahme des Verkehrsaufkommens.
Die Frage ist, ob unter solchen Bedingungen eine sinnvolle Raumordnungspolitik in einer marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaft realisiert werden kann. Bisher ist die Antwort eindeutig Nein. Es bedürfte eines neuen, rigiden Bauplanungsrechts und seiner Durchsetzung, um reine, auf Automobilität zugeschnittene Wohnquartiere am Stadtrand zu verhindern. Gleichzeitig müsste die Erprobung gemischter Viertel ermöglicht werden. Das erfordert die Genehmigung der unteren Baubehörde.
Doch zu viel Optimismus über die verkehrlichen Effekte gemischter Viertel ist fehl am Platz. Selbst wenn es gelänge, neue, wie beschrieben gemischte Quartiere zu realisieren, würde das nicht bedeuten, dass automatisch weniger Wege mit dem Auto gefahren werden. Dass die dort Wohnenden zu Fuß in das ansässige Coworking-Space zum Arbeiten gingen, wäre nicht mehr als ein glücklicher Einzelfall.
Neue Stadtquartiere ohne soziale Mischung
In den Großstädten nehmen die Heerscharen von Wohnungssuchenden die Wohnungen, die sie kriegen können. Dass man sich den Standort der Wohnung in der Nähe der Arbeitsstelle aussucht (oder umgekehrt), ist ein Luxus, der für die allerwenigsten erreichbar ist und bleibt.
Die meisten Menschen müssen nach wie vor zur Arbeit pendeln und zum Beispiel auch weite Wege zu Fachärzten auf sich nehmen. Ein freier Kitaplatz in der Nähe der Wohnung ist auch nicht mit dem Mietvertrag zu bekommen. Und Ikea, Aldi, Lidl, Kino und Tanzclub entstehen ebenfalls nicht ohne Weiteres in den neuen gemischten Quartieren, sondern dort, wo es sich für die Betreiber rechnet.
Umgekehrt sind die mutmaßlich in solchen Quartieren wohnenden Menschen diejenigen mit höherem Einkommen und gehobenem Bildungsniveau. Zwar ist deren Alltagsverkehr räumlich kompakt angelegt, dies wird aber mit einer überdurchschnittlich hohen Zahl von Flügen erkauft, die dann die Klimabilanz solcher Siedlungen heftig verhageln dürfte.
Bisher gibt es keinen Beleg dafür, dass gemischte Quartiere zu messbar weniger Verkehrsbewegungen führen. Dies müsste in einem experimentellen Setting zunächst einmal ausprobiert werden.
Dazu bieten sich vormalige Industrieareale in Innenstadtnähe an, wie zum Beispiel "Ringberlin" oder die "Malzfabrik" in Berlin. Bisher sind sie laut Flächennutzungsplan auf die gewerbliche Nutzung festgelegt. Würden sie zur Mischnutzung freigegeben, könnte die Entwicklung in den nächsten Jahren wissenschaftlich untersucht werden.
Dabei ist nicht nur die Verkehrsentwicklung auf den Arealen interessant, sondern auch, wie sich das Verhältnis von Wohnen und Gewerbe in Bezug auf Lärm und andere Emissionen entwickelt. Stimmt die Vermutung, dass die alten Konflikte in modifizierter Weise fortbestehen?
Zudem könnte erforscht werden, ob im Gegenzug zu wirtschaftlich attraktiver Verwertung auch unbebaute Schwammflächen in den gemischten Gebieten geschaffen werden können. In jedem Fall sollte ein solches Experiment im Ergebnis als offen betrachtet werden. Vor zu viel Optimismus ist zu warnen.
Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem
Wie kommen wir in Zukunft von A nach B? Fest steht: Es geht nur radikal anders als bisher. Aber wie? Die Gruppe "Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem" entwickelt Ideen für die Mobilität von morgen. Hier schreiben Wissenschaftler:innen und Expert:innen über Wege in ein neues Verkehrssystem, das flüssig, bequem, gerecht und klimafreundlich ist – jenseits von Allgemeinplätzen und Floskeln. Das Dossier erscheint in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Die Beiträge erscheinen zugleich im WZB-Blog der Forschungsgruppe Digitale Mobilität.