Klimareporter°: Herr Ibsch, um das Klima zu schützen, brauchen wir Dekarbonisierung und Digitalisierung – darauf können sich viele Unternehmen, Politiker und auch Umweltverbände inzwischen einigen. Ohne einen Ausstieg aus CO2-lastigen Technologien geht es nicht, das ist klar. Was aber kann Digitalisierung für Klimaneutralität leisten?
Marko Ibsch: Ein großes Thema beim Dekarbonisieren ist der Umbau des gesamten Energiesystems. Wir stellen ja nicht nur von Kohle, Atom und Gas auf Erneuerbare um, sondern auch von einer zentralen zu einer dezentralen Erzeugung.
Bisher lag die Verantwortung für die Stabilität des Stromsystems bei einer Handvoll großer Kraftwerke. Jetzt geht sie auf viele kleine Anlagen über. Das schafft schon einmal viele Probleme, bei denen die Digitalisierung helfen muss.
Abertausende von Solar- und auch Windanlagen müssen sich ja abgestimmt und nach vereinbarten Regeln verhalten – wie bei einem großen Orchester. Dort sollte auch jedes Instrument nach vorgegebenen Noten gespielt werden, damit es am Ende stimmig klingt.
Und die Noten sind vergleichbar mit den Anforderungen der Netzbetreiber. Um sicherzugehen, dass die Anforderungen eingehalten werden, braucht man eine digitale Infrastruktur, die alles koordiniert, zusammenführt und für ein harmonisches Verhalten sorgt. Händisch, manuell kann man das gar nicht machen.
Wie sieht so eine Digitalisierung denn konkret aus?
Derzeit muss zum Beispiel jede große Solaranlage ab 135 Kilowatt und künftig ab 500 Kilowatt ein Zertifikat vorweisen, dass sie sich abgestimmt verhält und andere Kriterien erfüllt. Dafür reichen die Projektentwickler eine zweistellige Zahl an Unterlagen ein. Dann prüfen Ingenieure in den Zertifizierungsstellen, ob alle Anforderungen erfüllt sind.
Stellen sie Abweichungen fest, geben sie alles nochmal zurück. Der Projektierer muss dann nachbessern – und oft geht das Spiel hin und her. Das kann mehrere Monate dauern.
In Deutschland sollen jedes Jahr mehr und mehr Solaranlagen installiert werden. Dabei wird die Zahl der Ingenieure in den Zertifizierungsstellen aber nicht gleichermaßen mitwachsen können. Da laufen wir allein beim Solarausbau in einen Bottleneck hinein, einen Engpass.
Das hat sich schon im vergangenen Jahr angedeutet, als die stockende Zertifizierung in der Öffentlichkeit als Blockade wahrgenommen wurde.
Künstliche Intelligenz kann hier Abhilfe schaffen, wenn Maschinen die Unterlagen zur Zertifizierung verstehen, zusammenfassen und den Ingenieuren dann die nötigen Informationen praktisch auf dem Silbertablett präsentieren.
Die Zertifizierer können sich dann auf die wichtigste Aufgabe konzentrieren: die abschließende Bewertung der Anlagen.
Zur Frage, ob Photovoltaik gut für die Energiewende ist, wird künstliche Intelligenz sicher etwas Sinnvolles aufschreiben. Die technisch-technologische Beurteilung einzelner Solarprojekte erscheint da deutlich schwieriger. Jede Anlage und jeder Standort sind doch anders.
Ganz so individuell ist es nicht. Zunächst beruht die Zertifizierung der Solaranlagen auf einer europäischen Richtlinie. Diese wurde in Deutschland in eine Grundnorm überführt. So gibt es hierzulande einheitliche Anforderungen an Solaranlagen, wenn diese ans Mittel-, Hoch- oder Höchstspannungsnetz angeschlossen werden.
Zunächst soll die künstliche Intelligenz auch erst einmal die ganzen für die Zertifizierung eingereichten Unterlagen verständlich machen und Abweichungen zur Norm aufzeigen. Dazu braucht es keinen Ingenieur.
Marko Ibsch
ist Elektroingenieur und gründete 2020 in Schleswig-Holstein das Greentech-Unternehmen Carbonfreed. Dessen KI-gestützte digitale Plattform "Gridcert" soll das Netzanschlussverfahren für große Photovoltaikanlagen von mehreren Monaten auf zwei Wochen verkürzen können. Nach eigenen Angaben hat das Start‑up bisher mehr als 600 Anlagenzertifizierungen begleitet.
Elektrische Schaltpläne beruhen ja auf genormten Zeichen. Künstliche Intelligenz ist heute in der Lage, diese zu verstehen – selbst wenn Pläne von Fall zu Fall voneinander abweichen.
Die KI kann dem Mitarbeiter auch dabei helfen, eine gesuchte Information in den teilweise hundertseitigen Unterlagen zu finden, zum Beispiel, ob ein bestimmter Schutzwandler vorhanden ist oder nicht.
Die KI kann die Informationen in den Dokumenten für die Software lesbar machen sowie Abweichungen zur Norm feststellen und diese dem Projektierer anzeigen. Sie könnte dann sogar die Frage beantworten, ob der Wandler die Anforderungen erfüllt oder nicht.
Natürlich trifft der Ingenieur am Ende die Entscheidung, die KI ist nur so eine Art Produktivitätsbooster.
Das aber ist für die Energiewende entscheidend. Wir müssen einen Weg finden, um die Netzintegration der Erneuerbaren skalierbar zu machen, also als einen standardisierten Massenprozess zu organisieren. Sonst laufen wir in den geschilderten Engpass hinein.
Bisher müssen Photovoltaik-Anlagen ab 135 Kilowatt Nennleistung ein Zertifikat vorweisen, dass ihre Anlage den Anschluss- und Betriebsbedingungen des jeweiligen Netzbetreibers entspricht. Diese Grenze soll im Solarpaket II, dem Nachfolger des jetzigen Solarpakets, auf 500 Kilowatt angehoben werden.
Diese Anhebung ist doch auch der Erkenntnis geschuldet, dass das Stromnetz auch dann stabil gehalten werden kann, wenn die Netzbetreiber nicht mehr jedes Kilowatt unter Kontrolle haben – oder gibt es andere Gründe?
Mit der zentralen Normung hat sich in den vergangenen Jahren schon der Spielraum der Netzbetreiber reduziert, welche Anforderungen sie an Energieanlagen stellen. Viele Netzbetreiber verfolgen beim Anschluss von Solaranlagen und Windparks aber noch immer eigene Wege. Das macht den Ausbau der Erneuerbaren unnötig kompliziert und verzögert ihn.
Unabhängig davon stellt aus technischer Sicht ein Stromsystem, das 2030 zu 80 Prozent und später zu hundert Prozent erneuerbar sein soll, grundlegend eine riesige Herausforderung dar. Das zeigt auch der zuletzt steigende Bedarf an Redispatch-Maßnahmen, bei dem erneuerbarer Strom wegen überlasteter Netze abgeregelt wird.
Die Umstellung von zentral zu dezentral ist eben ganz und gar nicht trivial. Da kann nicht jeder Erzeuger machen, was er will.
Probleme sehe ich hier besonders an den sogenannten Schnittstellen zwischen Erzeugern und Netzbetreibern. Da sind wir in Deutschland noch weit zurück.
2023 ist noch immer Stand der Technik: Wir verschicken für die Zulassung von Anlagen E‑Mails mit PDF-Anhängen und jede dieser Mails muss noch dreimal weitergeleitet werden, weil einer allein die gar nicht beantworten kann. Das kann so nicht bleiben.
Bekäme man diese Prozesse mithilfe von Standardisierung und Digitalisierung in den Griff, müsste bei den Solaranlagen auch nicht die Zertifizierungsgrenze von 135 auf 500 Kilowatt angehoben werden. Damit wird für mich nur an Symptomen herumgedoktert, statt das Problem wirklich zu lösen.
In ein oder zwei Jahren wird das Thema stockende Zertifizierung wieder auf den Tisch kommen. Heben wir die Grenze dann auf ein Megawatt an? Das ist ein Spiel, das nicht zu gewinnen ist.
Das Stromsystem von zentral auf dezentral umzustellen, bedeutet ja auch, es nicht mehr "von oben", ausgehend von Großkraftwerken zu steuern, sondern "von unten".
Idealerweise würden Quartiere, Kommunen und Betriebe ihren Strombedarf, so weit es geht, aus eigenen Quellen decken, Überschüsse ins Netz liefern oder von dort bei Bedarf Strom beziehen. Das wird ohne weitgehende Digitalisierung und Automatisierung nicht funktionieren. Die Frage dabei ist aber auch: Was machen dann die derzeit noch gut 800 Netzbetreiber?
Das ist ein heikles Thema. Auch da muss und wird sich etwas ändern. Aber in Deutschland geht selten etwas so schnell, wie es gehen müsste.
Oder denken wir an die künftige Einbeziehung Hunderttausender E‑Autos als Speicher – das kann nur digital funktionieren. Da muss der Gesetzgeber noch einiges tun.
Längerfristig müssen wir auch an die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung denken. Große, unübersichtliche Datenmengen verstehen, daraus bestimmte Informationen selektieren, diese mit Anforderungen und Normen vergleichen und das Ergebnis in einem Prüfbericht zusammenfassen – all das ist nicht nur bei einer Zertifizierung nötig, sondern zum Beispiel auch bei Bauprojekten oder bei Bafög-Anträgen.
Beim Thema digitale Verwaltung sind wir mit dem Land Schleswig-Holstein schon im Gespräch. Aber erst einmal kümmern wir uns jetzt um die Solaranlagen und die Erneuerbaren. Wir wollen zeigen, dass künstliche Intelligenz da helfen kann.