9.666 Kilometer Leitungen sollen 2032 das Kernnetz der deutschen Wasserstoffinfrastruktur bilden. Das sieht der Antrag vor, den die Vereinigung der Fernleitungsnetzbetreiber Gas (FNB Gas) Ende Juli bei der Bundesnetzagentur eingereicht hat.
Der Aufbau des Grundgerüsts der Wasserstoffinfrastruktur ist bereits im Koalitionsvertrag der Ampelparteien festgehalten. Mitte letzten Jahres war noch von 11.000 Kilometern Kernnetz bis 2032 die Rede. Ein erster Antragsentwurf der Fernnetzbetreiber kurz vorm Jahreswechsel sah schließlich 9.721 Kilometer vor.
Einige Monate und Konsultationsschleifen später ist das geplante Netz um wenige weitere Kilometer geschrumpft und hat einige bürokratische Hürden überwunden. So hat etwa die EU-Kommission Deutschland Ende Juni grünes Licht für die Förderung des Projekts gegeben.
Bevor aus Plan Wirklichkeit werden kann, muss die Bundesnetzagentur den Antrag innerhalb der nächsten zwei Monate genehmigen. Dann steht dem Bau nichts mehr im Wege.
Bereits nächstes Jahr soll, sofern alles nach Plan läuft, durch die ersten Rohre Wasserstoff fließen.
Doch auch die 9.666 Kilometer könnten überdimensioniert sein, erklärt Frederik Beelitz, Wasserstoffexperte des Beratungsunternehmens Aurora Energy Research. "Knapp 10.000 Kilometer Leitungen in acht Jahren, das ist angesichts der erwarteten kurz- bis mittelfristigen Nachfrageentwicklung sehr hoch gegriffen."
Zwar sieht der Antrag vor, dass die Inbetriebnahme einzelner Leitungen bis zum Jahr 2037 aufgeschoben werden kann, aber das ist nur im Einzelfall vorgesehen, wie das Wirtschaftsministerium auf seiner Website verdeutlicht. Zieljahr bleibe 2032.
Vor einer mittelfristigen und eventuell auch langfristigen Überdimensionierung des Kernnetzes hatte Aurora Energy Research bereits in einer Analyse Anfang des Jahres gewarnt. Beauftragt wurden die Analyst:innen von der "Initiative Energien Speichern" (Ines), einem Zusammenschluss von Gasspeicher-Betreibern.
Geplantes Kernnetz übersteigt noch immer den Bedarf
Der Planung des Netzes liegt die Modellierung eines Wasserstoff-Szenarios zugrunde. Dabei hat FNB Gas den Bedarf – vor allem der Industrie und Kraftwerke – sowie die Produktionskapazitäten und erwarteten Importabhängigkeiten einbezogen. Auf Nachfrage heißt es dort, dass das Szenario auch "politisch gesetzt" worden sei.
Dabei nehmen die Netzbetreiber ein Wachstum der jährlichen Wasserstoffnachfrage von heute 56 Terawattstunden auf 278 Terawattstunden bis 2032 an. Basierend auf wirtschaftlichen Analysen prognostizieren die Aurora-Expert:innen, dass Deutschland bis 2030 lediglich Wasserstoff im Umfang von jährlich 73 Terawattstunden braucht.
Selbst bei einem ambitionierten Netto-Null-Szenario, mit hohem Wasserstoffbedarf und Treibhausgasneutralität 2045, liegt der Verbrauch laut der Analyse 2030 nur bei 123 Terawattstunden. Die Bundesregierung selbst geht von 95 bis 130 Terawattstunden aus, dann soll die Menge aber stark steigen und 2045 mehr als 500 Terawattstunden erreichen.
Die deutliche Überdimensionierung des Netzes würde möglicherweise bewusst in Kauf genommen, um den späteren Anstieg des Wasserstoffbedarfs vorzubereiten, schreiben die Aurora-Autor:innen. Die Fernnetzbetreiber begründen ihre Planung auf Nachfrage damit, allen Marktteilnehmern "Sicherheit mit Blick auf Planungen und Investitionen" geben zu wollen.
Anzumerken ist allerdings, dass die Betreiber auch ein wirtschaftliches Interesse an einer großen Wasserstoffinfrastruktur haben.
Beelitz, der auch an der Analyse beteiligt war, merkt an, dass die Saisonalität der Wasserstoffnachfrage in der Planung nur teilweise berücksichtigt wurde, ebenso wie die Rolle von Speichern und Importprofilen. Würden diese Aspekte bei der Netzdimensionierung einbezogen, ließen sich die Gesamtkosten reduzieren.
Auch die hohe Zahl an Grenzübergangspunkten sei nicht "kostenoptimierend", so Beelitz. "Der Wunsch, das deutsche Kernnetz als Teil eines europäischen Netzes zu entwickeln, ist nachvollziehbar. Aber bei einigen der geplanten Grenzübergänge im Kernnetz bestehen nach unseren Modellrechnungen Zweifel, ob über sie überhaupt Wasserstoff fließen wird."
Erdgasrohre sind grundsätzlich geeignet für Wasserstoff
Die prognostizierten Kosten für das Kernnetz liegen laut Antrag bei 19,7 Milliarden Euro. Grundsätzlich sollen die Kosten für das Wasserstoffnetz, ebenso wie bei Erdgas und Strom, über Entgelte von den Nutzern getragen werden.
Da es in den nächsten Jahren aber vermutlich nur wenige Abnehmer geben wird, will der Bund in Vorleistung gehen und so den Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft ermöglichen. Genauer bedeutet das, dass die Differenz aus anfangs hohen Kosten und noch geringen Netzentgelten – wegen der wenigen Nutzer:innen und einer Entgelt-Deckelung – vom Bund über ein sogenanntes Amortisationskonto getragen wird.
Sobald die Netzentgelte die Kosten für Ausbau und Betrieb des Netzes übersteigen, wird das Amortisationskonto wieder ausgeglichen. Die Annahme ist, dass das vorgestreckte öffentliche Geld bis 2055 dann wieder eingenommen wird.
Beelitz begrüßt das Finanzierungsmodell. Die Frage, ob es nicht kosteneffizienter wäre, flexibler und gesamtheitlich mit dem zu erwartenden Speicherbedarf zu planen, bleibe aber.
Das Kernnetz soll den überregionalen Wasserstofftransport sowie die Anbindung Deutschlands an die europäische H2-Infrastruktur gewährleisten. Wichtige Wasserstoff-Standorte sollen miteinander verbunden werden, darunter Erzeugungsregionen, Kraftwerke, Industriezentren und Speicher, aber auch zahlreiche Grenzübergangspunkte und LNG-Terminals für den Gas‑Import.
40 Prozent der Leitungen sollen neu gebaut werden, der größere Teil soll durch Umstellung bereits vorhandener Erdgas-Leitungen entstehen. Während das Wirtschaftsministerium für den Neubau von Wasserstoffleitungen mit einer Dauer von fünf bis acht Jahren rechnet, ist die Umstellung von Erdgas auf Wasserstoff wesentlich schneller zu realisieren.
Die Rohre sind in den meisten Fällen in der Lage, Wasserstoff zu transportieren, weshalb die Umrüstung vergleichsweise unkompliziert ist. Dennoch muss jedes einzelne Rohr umfassend geprüft werden und einzelne technische Komponenten wie Verdichter müssen angepasst werden.
Kernnetz erreicht die Fläche nicht
Aus einigen Regionen kam unterdessen Kritik, das Kernnetz reiche nicht aus, um dem dortigen Bedarf gerecht zu werden.
Der Bundestagsabgeordnete Andreas Jung aus Baden-Württemberg klagte, der Südwesten werde in der Planung "krass benachteiligt". Auch die baden-württembergische Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut mahnte, "weiße Flecken auf der Wasserstofflandkarte" könne man sich nicht leisten.
Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer bemängelte, dass die "Wirtschafts- und Zukunftsregionen Südwestsachsen und Lausitz bei dieser wichtigen Infrastrukturmaßnahme" übergangen worden seien. Alle drei sind Mitglieder der CDU, die im Bund in der Opposition ist.
Dass die Kernnetz-Planung bisher weitgehend an der Fläche vorbeigeht, bestätigt auch Energieexperte Frank Merten vom Wuppertal-Institut. Um mittelständische Unternehmen auf dem Land zu versorgen, müssten vom Kernnetz ausgehend auch Zuleitungen und Verteilnetze entstehen.
Das ist durchaus geplant. Das Energiewirtschaftsgesetz sieht vor, dass Netzbetreiber alle zwei Jahre einen Netzentwicklungsplan für Wasserstoff und Gas vorlegen, um den weiteren Ausbau der Wasserstoffinfrastruktur voranzutreiben.
Allerdings ist auch das eine Kostenfrage. In Gebieten mit wenigen Wasserstoff-Verbrauchern könnte sich der Transport von Wasserstoff oder seinen Derivaten wie Methanol oder Ammoniak mit Lkws oder per Schiene auch langfristig als günstiger herausstellen als der Ausbau des Netzes.
Ist das Kernnetz nun aber über- oder unterdimensioniert? Das hängt von der Perspektive ab, erklärt Merten. Bezogen auf das Zieljahr 2032 sei die geplante Transportkapazität voraussichtlich zu hoch, vor allem bei weiterhin schleppendem Hochlauf des Wasserstoffmarktes. In den Jahren danach und vor allem langfristig dürfte das Netz aufgrund steigender Nachfrage allerdings eher unterdimensioniert sein.
Merten: "Wir sollten auch zukünftig darauf achten, nur so viel Wasserstoff zu verbrauchen, wie wirklich nötig ist." Die direkte Nutzung von Strom sei überall dort, wo sie möglich ist, immer effizienter als der Umweg über Wasserstoff oder Wasserstoff-Derivate.