Aktivist:innen stehen mit mehreren Bannern auf der Baustelle der A100
Bei der Blockade auf der A‑100-Baustelle in Berlin geht es auch um bezahlbares Wohnen. (Foto: Sandra Doneck)

Beim Klimastreik von Fridays for Future am vergangenen Freitag in Berlin ist Frust zu spüren. Die Ampel-Koalition liefert keine 1,5-Grad-konforme Politik, soziale Gerechtigkeit schon gar nicht, das ist allen klar.

Der Demonstrationszug schiebt sich nur langsam am Willi-Brandt-Haus, der SPD-Parteizentrale, vorbei. Die Sozialdemokraten werden mit Reden, Sprüchen und wütendem Lärm beschallt.

Etwas später besetzen hunderte Menschen die Straße vor dem Eingang. Mit dabei sind Sofas und ein Traktor der "jungen Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft", die gemeinsam mit Fridays for Future und Extinction Rebellion die SPD-Zentrale blockiert.

Das Bündnis, das noch über 30 weitere Organisationen umfasst, hat mit der Blockade und den folgenden Aktionen große Ziele: globale Klimagerechtigkeit, bezahlbare Mieten, Aufarbeitung der Kolonialzeit, Umverteilung, sichere Fluchtwege, ein solidarisches Gesundheitssystem, faire Impfstoffverteilung, bessere Arbeit für alle. Der Bündnisname umreißt all das mit: "Gerechtigkeit Jetzt!"

"Landwirt:innen sind weltweit schon jetzt am stärksten von der Klimakrise betroffen", erklärt Gesine Langlotz von der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) bei der SPD-Blockade. "Koloniale Kontinuitäten müssen jetzt im Agrarsektor aufgebrochen und Landgrabbing durch Konzerne und europäische Staaten verhindert werden. Der Bodenmarkt muss dringend gerecht reguliert und Agrarpolitik zur Klimapolitik gemacht werden."

Auch die Zentrale der Grünen wird am Freitag – sowie erneut am Samstag – für einige Stunden blockiert. Es herrscht Wut über eine grüne Partei, die sich als ökologisch und sozial bezeichne, aber zu neoliberal und zu konservativ handle und in der Ampel am klima- und sozialpolitischen Verwässern beteiligt sei.

Alle gemeinsam gegen Autobahn

Die kleinste Ampel-Partei, die FDP, wird im Zuge der Proteste gleichfalls kritisiert. Aber nachdem Parteichef Christian Lindner vergangene Woche auf "Unsere Zukunft ist nicht verhandelbar"-Rufe von Fridays-Aktiven mit einem glatten "Doch" geantwortet hatte und die FDP damit ein klares Feindbild für linke und ökologische Bewegungen abgibt, konzentriert sich der Druck, mehr Klima und Soziales in der Koalition durchzusetzen, auf SPD und Grüne.

"Die Lebensgrundlagen von Menschen weltweit sind nicht verhandelbar", sagt Carla Reemtsma von Fridays for Future. "Deshalb gehen wir einen Schritt weiter und erhöhen mit den heutigen Blockaden den Druck auf SPD, Grüne und FDP." Das neue Bündnis setzt gegen die Politik der Koalitionsparteien sein Motto: "Ihr lasst uns keine Wahl!"

Am Samstag wird weiter blockiert. Ziel ist, wie schon im Juni, die Baustelle der Stadtautobahn A 100 in Berlin-Neukölln. Diesmal sind weitere Gruppen dabei: "Ende Gelände", "Sand im Getriebe" und das "Bündnis gegen Mietenwahnsinn". 

200.000 Euro pro Meter Beton kostet der umstrittene Autobahnausbau – "ein Sinnbild für das Verkehrssystem von vorgestern und das Scheitern der Politik", so das Bündnis.

"Hier soll Wohnraum abgerissen werden, um noch mehr Platz für Autos statt für Menschen zu schaffen", kritisiert Ronja Weil von "Gerechtigkeit Jetzt". Jemand von der Initiative "Deutsche Wohnen und Co enteignen" fügt hinzu: "Auch gerechte Mietenpolitik ist nicht verhandelbar!"

Reicht ein vages Ziel für eine Bewegung?

Die Demonstration am Sonntag vereint noch einmal die vielen Themen. Mehr als 60 Organisationen haben unter dem Motto "Solidarisch geht anders" dazu aufgerufen. Auch die Berliner Krankenhausbewegung und die "Omas gegen Rechts" fordern mit etwa tausend Demonstrant:innen: "Raus aus der Krise – nicht zurück!"

Die Frage ist, welche Krise gemeint ist. Das Bündnis lebt von der Idee, verschiedene soziale und ökologische Probleme als Symptome eines multiplen, sehr großen Krisenkomplexes zu sehen, an denen die verschiedenen Bewegungen ansetzen. Das gemeinsame Ziel: ein sozial-ökologischer Umbau der Gesellschaft.

Antworten für diesen Umbau werden noch bis heute auf einer "Konferenz der Visionen" gesucht und diskutiert, die an verschiedenen Orten in Berlin, vor allem im Klimacamp neben dem Haus der Kulturen der Welt, stattfindet. Die Themen und Formate sind erneut breit aufgefächert. Es geht um die europäische Grenzschutzagentur Frontex, um "Gender und Care", um Klimakrise und Migration.

Allein die vielen Themen in einer Woche untergebracht zu haben, ist eine Leistung. So ein breites Bündnis gab es noch nie – auch mit der Verbindung ganz verschiedener Aktionsformen: ziviler Ungehorsam, Demonstration, Konferenz, Klimacamp.

Nicht zuletzt dieser Vielfalt ist es vermutlich geschuldet, dass das Bündnis keine konkreten gemeinsamen Forderungen in den Protest eingebettet hat. Bei so vielen Ansätzen und Organisationsformen war es offenbar schwierig, sich auf ein paar Punkte zu einigen. "Gerechtigkeit" wollen natürlich alle.

Kritik an "privilegierten europäischen Gruppen"

Unkonkrete Forderungen nehmen aber auch Druck aus einem Protest. Das macht Esteban Servat, Umweltaktivist aus Argentinien, bei der Demo am Sonntag klar. Europäische Gruppen müssten sich auf einzelne Projekte, etwa mit Beteiligung deutscher Konzerne im globalen Süden, fokussieren und ihre Privilegien nutzen, um breit darauf aufmerksam machen, statt immer nur, "Solidarität", "Gerechtigkeit" und "1,5 Grad" zu fordern.

"Gerechtigkeit Jetzt" war als Experiment gedacht, unterschiedliche soziale und Klimabewegungen zusammenzubringen und gemeinsam stärker zu machen. Die Aktionstage haben nicht außerordentlich viele Menschen mobilisiert oder große Aufmerksamkeit erzeugt. Doch gerade die Verknüpfung zwischen Klimaschutz und Gerechtigkeit wurde unterstrichen, statt gegeneinander ausgespielt zu werden.

Ob das Bündnis weiterbesteht und die verschiedenen Organisationen über den Anlass hinaus zusammenhält, ob so vielleicht eine linke, progressive (Klima-)Gerechtigkeitsbewegung wachsen kann, bleibt offen.

Zunächst einmal ruft "Gerechtigkeit Jetzt" für das Wochenende zur gemeinsamen Verteidigung des Dorfes Lützerath im Rheinischen Braunkohlerevier auf, das im November auf Begehren des RWE-Konzerns von der Polizei geräumt werden soll. Möglicherweise kommen die Bewegungen dort weiter zusammen.

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