Es ist März 2024. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU), der die Bundesregierung berät, veröffentlicht ein Thesenpapier, das deutlicher und brisanter nicht hätte sein können. Die klare Botschaft lautet: Für eine lebenswerte Zukunft auf diesem Planeten braucht es vor allem eins: Suffizienz.

Suffizienz sieht der Sachverständigenrat als eine "Strategie des Genug". Ziel ist, den Verbrauch von Rohstoffen und Energie absolut zu vermindern. Um der Überschreitung der planetaren Grenzen entgegenzuwirken, reichen für den SRU Effizienz und Konsistenz – also die Optimierung bestehender Techniken und der Ersatz durch umweltfreundlichere Alternativen – nicht aus.

 

Suffizienz bedeutet ein Leben im Genug – nicht in Armut, aber auch nicht in einem Überfluss, wie er für die Mehrheit der Bevölkerungen in den reichen Industrienationen noch üblich ist. Die auch daraus resultierende Übernutzung natürlicher Ressourcen destabilisiert das Erdsystem.

Der Sachverständigenrat lässt keine Zweifel daran, wie dringlich eine Suffizienzpolitik ist, stellt aber auch die Vorteile und Gewinne einer suffizienten Lebensweise heraus. Die Expert:innen untermauern die Notwendigkeit von Suffizienz wissenschaftlich, rechtlich und moralisch und scheuen sich nicht, neben Wissenschaft und Gesellschaft auch die Politik in Verantwortung zu ziehen. "Eine Politik der Suffizienz ist verfassungsrechtlich möglich und unter bestimmten Bedingungen sogar geboten", schreibt der Rat.

Neu ist der Suffizienzgedanke an sich nicht. Bereits viele Vordenker:innen haben überzeugend für einen Ausweg aus dem weltzerstörerischen Konsummodell der Moderne argumentiert.

Das Papier des Sachverständigenrates besitzt jedoch Brisanz aufgrund der akribischen Wissenschaftlichkeit, mit der jede der 16 Thesen zur Suffizienz untermauert wird, sowie durch die offizielle Funktion des SRU.

Eine politische Auseinandersetzung findet nicht statt

Der Sachverständigenrat versteht sein Thesenpapier, so lautet jedenfalls der Untertitel, als eine "Einladung zur Diskussion" – zu einer Diskussion, die seit Langem überfällig ist, wenn man die gewaltigen Herausforderungen der eskalierenden Klima- und Umweltkrisen ernst nimmt.

Doch dann passiert – nichts.

Bild: privat

Tabea Schünemann

ist Theologiestudentin, Autorin und Klimaaktivistin und lebt zurzeit in Leipzig. Sie ist Mitglied der Initiative klimagerecht leben.

Die Bundesregierung ignoriert ganz offensichtlich die Arbeit ihres eigenen Sachverständigenrats, ebenso tun es die Parteien der Opposition. Eine ernsthafte politische Auseinandersetzung über die Thesen zur Suffizienz findet nicht statt.

Im Gegenteil: Die politischen Debatten über die Krise des Klimas, das Artensterben und viele weitere Umweltprobleme drehen sich beinahe ausschließlich um vermeintliche technische Lösungen. Das Thema Suffizienz wird selbst von jenen gemieden, die es besser wissen. Die meisten politischen Parteien gehen ihm bewusst aus dem Weg.

Diese weitreichende und fatale politische Ignoranz ist ganz unterschiedlich motiviert. So stellt sich das Konzept Suffizienz gegen das kapitalistische und angeblich alternativlose Wachstumsmodell.

Trotz der bereits stattfindenden Katastrophen wird uns allseits vermittelt, wir lebten in der besten aller möglichen Welten. In vielen politischen Köpfen scheint die Möglichkeit einer Alternative zu endlosem Konsum nicht angelegt zu sein, obwohl es immer offensichtlicher wird, dass ein Weiter-so die Menschheit in den Kollaps treiben wird.

Stattdessen wird weiterhin jeder Versuch einer Regulierung von umweltschädigendem Konsum durch eine neoliberale Erzählung von "Freiheit" blockiert. Es hält sich hartnäckig ein Narrativ, das klimapolitische Maßnahmen unter dem Vorwurf des unverhältnismäßigen Verbots ablehnt. Hier wirkt offenbar auch eine Angst der Wohlhabenden, die fürchten, ihre Privilegien zu verlieren.

Reich bedeutet einflussreich 

Das Umweltbundesamt (UBA) hat in seiner Untersuchung zu populistischen Narrativen vom Februar 2024 auch diese Strategien des Anti-Klima-Populismus aufgedeckt. Umweltpolitische Regulierungen werden danach als "autoritäre und antidemokratische Eingriffe in die persönlichen Freiheitsrechte verzerrt". Bei diesem Argumentationsmuster überschneiden sich nach Auffassung des UBA die populistische und die neoliberale Rhetorik.

Der Sachverständigenrat gibt darauf eine klare und herausfordernde Antwort. Für ihn gefährden ressourcenintensive Lebensstile "die Freiheit anderer". Auch gebe es "keinen moralischen Anspruch, dies zu ignorieren".

Bild: privat

Roland Vossebrecker

ist Musiker und als Aktivist in der Holocaust-Bildungsarbeit und in der Klima­gerechtigkeitsb­ewegung engagiert. Er ist ebenfalls Mitglied der Initiative klimagerecht leben.

Das Konzept der Suffizienz nimmt vor allem Menschen mit hohem Ressourcenverbrauch in die Pflicht. In Deutschland wie weltweit gilt: Je größer das Einkommen oder Vermögen ist, desto größer sind auch der Ressourcenverbrauch und der ökologische Fußabdruck – aber auch das politische Gewicht. Reich bedeutet einflussreich. Zu diesem Schluss kam sogar ein Forschungsprojekt der Bundesregierung über die Armuts- und Reichtumsberichterstattung.

Daher verwundert es nicht, dass das SRU-Diskussionspapier politisch kein Gehör findet: Es ist nicht im Interesse eines (einfluss)reichen Teils der Bevölkerung. Zumindest nicht, wenn das Interesse primär in der Bewahrung und Vermehrung des Vermögens besteht.

Dem Systemwandel stehen diejenigen entgegen, die das System erhalten wollen, weil sie davon profitieren. Das ist keine neue Erkenntnis, umso wichtiger ist es, den Finger immer wieder in diese offene Wunde der Demokratie zu legen.

Ein Weiteres, um Suffizienz ins Abseits zu stellen, tun die Strategien und Narrative einer erfolgreichen "Klimaschmutzlobby". Deren Strategien werden dank investigativer Recherchen immer bekannter, dennoch war die Lobby in den vergangenen Jahrzehnten leider nirgendwo so erfolgreich wie bei der Entpolitisierung der Klimadebatte.

Doch es bleibt die originäre Aufgabe der Politik, Strukturen zu fördern, die ein suffizientes Leben ermöglichen oder erleichtern.

Mutlosigkeit bei denen, die es eigentlich wissen

Schließlich gibt es noch jene politischen Kräfte, die verstanden haben, dass ohne Suffizienz die Rettung unserer Lebensgrundlagen nicht funktionieren kann – und unter dem Aspekt der Gerechtigkeit schon gar nicht.

Es fehlt aber der Mut, dies auch offen zu sagen. Beharrlich hält sich der Glaube, diese Wahrheit dürfe den Wähler:innen nicht zugemutet werden. Der Gesellschaft wird ein suffizientes Leben nicht zugetraut. "Ja, stimmt, aber wenn wir das sagen, dann wählt uns niemand mehr" – diese Floskel begegnete uns in Gesprächen mit Politiker:innen der Grünen allzu oft. Man könnte es passiven Populismus nennen.

Der SRU hat auch zu dieser Frage einiges zu bieten: Suffizienz kann Baustein eines gelingenden Lebens sein, schreiben die Wissenschaftler:innen.

Suffizienz ist eben keine reine Verzichtserzählung. Wem als Motiv die Bewahrung unserer menschlichen Zivilisation nicht reicht, dem können, dem müssen weitere Vorteile einer genügsamen Lebensweise vermittelt werden, meinen die Sachverständigen: Eine suffiziente Gesellschaft ist einfach gesünder, entspannter und gerechter.

Eine Aufgabe für die Klimabewegung

Wie lässt sich diese politische Ignoranz durchbrechen? Wie kann es endlich zu einer mutigen und ehrlichen politischen Auseinandersetzung um Suffizienz als alternativer genügsamer Lebensweise und Gesellschaftsform kommen?

Politiker:innen pflegen den Eindruck, suffiziente Maßnahmen seien nicht "Volkswille" – auch das ist eine Anti-Klima-populistische Strategie. Damit sie nicht funktioniert, braucht es ein lautes gesellschaftliches "Doch – wir wollen das".

Es braucht, so sieht es der SRU, "Pionier:innen des Wandels". Das sind Einzelpersonen, Gruppen oder Organisationen, "die eine Transformation 'von unten' durch Innovationen und nachhaltige Praktiken anstoßen".

Mit ihrer Suffizienzstrategie stellen die Wissenschaftler:innen des SRU unsere Konsumgesellschaften genauso infrage wie die aktuellen Besitzverhältnisse, die auf endloses quantitatives Wachstum ausgerichtete Wirtschaft sowie eine Denkweise, die die Alternativlosigkeit des Kapitalismus predigt, und schließlich unsere Wertvorstellungen – kurz gesagt: das ganze System.

Aus dieser Sicht erhielte die berechtigte, aber allgemeine Forderung der Klimagerechtigkeitsbewegung "System change, not climate change" im Projekt Suffizienz ein klares Profil.

 

Suffizienz-Webinar

am 30. Januar 2025, 19-21 Uhr, mit den Suffizienzexpert:innen Julia Michaelis und Bendix Vogel vom Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU)

Thema: Wie können wir das Thema Suffizienz endlich in die gesellschaftliche und vor allem politische Debatte bringen? Das Webinar soll der Kick-off für eine große Suffizienz-Kampagne werden.

Veranstalterin, Information und Teilnahme-Link: Initiative kimagerecht leben