Die Energiewende mit dem Ziel, Deutschland bis 2045 klimaneutral zu machen, erfordert in den nächsten zwei Jahrzehnten hohe private, aber auch staatliche Investitionen. Eine Gruppe von Energieexperten plädiert deswegen in einem aktuellen energiepolitischen Positionspapier dafür, zusätzlich Mittel durch Einrichtung eines Sondervermögens oder die Abschaffung der Schuldenbremse bereitzustellen.
Die Professoren vom Westfälischen Energieinstitut (WEI) der Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen beziffern die nötigen Investitionen auf durchschnittlich rund 90 Milliarden Euro pro Jahr. Gebraucht werde das Geld zum Beispiel für neue Solar- und Windkraftanlagen, die Umrüstung der Industrieproduktion von Öl und Gas auf Ökostrom oder grünen Wasserstoff sowie den Ausbau des Ladenetzes für E‑Autos.
Investitionen in dieser Größenordnung seien "für sich genommen durchaus stemmbar", meinen die Experten und verweisen auf das "Finanzierungspotenzial" der deutschen Volkswirtschaft. "Eine langfristige durchschnittliche Sparsumme von 250 Milliarden Euro und Kapitalabflüsse ins Ausland von 150 Milliarden pro Jahr verdeutlichen dies."
Problematisch werde die Finanzierung aber dadurch, dass Deutschland auch in vielen anderen Bereichen "aufgrund der Austeritätspolitik der vergangenen Jahrzehnte dramatisch unterinvestiert" sei, so bei der öffentlichen Infrastruktur, beim Wohnungsbau sowie bei Bildung, Gesundheit und Digitalisierung.
Hierfür seien zusätzlich mindestens 250 Milliarden Euro pro Jahr nötig. Die Hoffnung, dies und auch die Energiewende durch ein Wirtschaftswachstum zu finanzieren, sei Wunschdenken.
"Bei einem 'Weiter so' ist der soziale Frieden gefährdet"
Weiter argumentieren die Experten: "Selbst wenn die Finanzierung gesamtwirtschaftlich darstellbar wäre, ist mit Blick auf die Lastenverteilung bei einem 'Weiter so' der soziale Frieden gefährdet."
Um die unteren Einkommensgruppen durch die Energiewende nicht zu überfordern, bedürfe es daher einer Umverteilung des Einkommens und des Vermögens sowie der Aufnahme von staatlichen Schulden – entweder eben durch die Auflage eines Sondervermögens, wie es bei der Bundeswehr gemacht wurde, oder durch eine Abschaffung der Schuldenbremse im Grundgesetz.
Dies wird bisher von der Regierungspartei FDP sowie von der Union abgelehnt. Für eine Grundgesetzänderung wäre eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag nötig.
In ihrem Energiewende-Positionspapier kritisieren die Experten außerdem, die aktuelle Energiepolitik der Ampel sei "zu kurz gedacht", sie vermissen eine effiziente Organisation der Energiewende. Vornehmlich darauf zu setzen, dass die Märkte dies in Verbindung mit einer CO2-Bepreisung erreichen – also durch den EU-Emissionshandel – sei "naiv", schreiben sie.
Die Professoren fordern unter anderem die Einführung eines vergünstigten Industriestrompreises und die Etablierung von "grünen Leitmärkten", um Unternehmen in Deutschland zu halten. Für einen Industriestrompreis hatten sich in der Ampel SPD und Grüne ausgesprochen, konnten sich aber nicht gegen die FDP durchsetzen.
Ein weiterer zentraler Aspekt in dem Papier ist die Versorgungssicherheit im Energiesystem. Hier fordern die Experten die Bundesregierung auf, konsequent für Wasserstoff-Speicher und Importe von grünem Wasserstoff zu sorgen.
Für die Stromversorgung seien zudem "mindestens" 100.000 Megawatt an Backup-Kraftwerken nötig, um Zeiten mit wenig Wind- und Solarenergie überbrücken zu können. Dies liegt deutlich über den Plänen der Ampel und auch denen vieler Energie-Experten und Branchenverbände. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hätte unlängst in einem ersten Schritt die Ausschreibung von Kraftwerken mit insgesamt 10.000 Megawatt Leistung angekündigt. Ergänzend dazu soll es einen Kapazitätsmarkt geben, der weitere "Backup"-Kraftwerke überflüssig macht.
Heinz-Josef Bontrup, einer der Hauptautoren der Studie, forderte vor der Bundesregierung einen energiepolitischen "Masterplan". "Wir schlingern in eine Energiewende, die gesellschaftlich und wirtschaftliches Stückwerk ist", sagte er. "So kann Deutschland vor der Welt sicher nicht als Klimaschutzvorbild auftreten."