Der Minister hat schon Zustimmung signalisiert. Auch Robert Habeck warb zuletzt dafür, den Strompreis für die Industrie mit staatlichen Mitteln zu deckeln. "Ich denke, dass wir das machen müssen", sagte der grüne Bundeswirtschaftsminister laut Presseberichten.

Sollte der Industrie-Strompreis auf dem Tisch von Habecks mittlerweile in die Kritik geratenem Staatssekretär Patrick Graichen landen, könnte der in eine Studie schauen, die der Thinktank Agora Energiewende 2014 veröffentlicht hatte. Graichen dürfte sie kennen, hatte doch der heutige beamtete Staatssekretär den Thinktank 2012 mit aufgebaut und ab 2014 geleitet.

Schon damals, vor fast zehn Jahren, wiesen die Studienautoren und Agora-Mitarbeiter darauf hin, dass Energiekosten zwar wichtig seien, um die Wettbewerbsfähigkeit einer Industrie zu bewerten, es jedoch auf andere Faktoren wie Innovation, Forschung und Entwicklung sowie Qualifikation genauso ankomme.

Vor allem aber stellte die Studie klar, dass der als Messlatte genutzte Spotpreis im Großhandel der Strombörse möglicherweise "nicht genau" die Kosten des von der Industrie bezogenen Stroms widerspiegelt. Denn energieintensive Industrien besorgten sich ihren Strom am Markt mit besonderen Einkaufs- und Absicherungsstrategien, so die Autoren.

"Faire" Energiekostenvergleiche nahezu unmöglich

Auch machten langfristige Verträge oder die Existenz regulierter Preise in einigen Ländern direkte Vergleiche von Industrie-Strompreisen besonders schwierig. Diese Bedingungen wie auch der Mangel an transparenten Statistiken über energieintensive Endverbrauchspreise zeigten für die Studienautoren die Unmöglichkeit eines "fairen" Vergleichs der Energiekosten zwischen den Ländern.

Geändert an dieser Unmöglichkeit hat sich seitdem nicht viel. In ihrem Ende April vorgelegten Konzept für einen Transformationsstrompreis räumt die niedersächsische Landesregierung ein: Gerade bei energieintensiven Unternehmen blieben die tatsächlichen Beschaffungskosten für Strom sehr individuell, unterschiedlich und für Außenstehende meist im Ungewissen.

Wörtlich heißt es: "Durch etwaige Großkundenrabatte und geschickte Beschaffungsstrategien lassen sich Preise auch unterhalb des Börsenstrompreises erreichen." Außerdem zahle die energieintensive Industrie aufgrund diverser Ausnahmen bereits jetzt eine erheblich reduzierte Stromsteuer.

Also: Viel besser als vor zehn Jahren ist nicht bekannt, was die große Industrie so zahlt. Aber die Energiekrise bietet offenbar eine gute Gelegenheit, mit dem Thema bei den Regierenden durchzukommen. Entsprechend trommeln derzeit Wirtschaftsverbände und Oppositionsparteien, aber auch die IG Metall für einen staatlichen Stromdeckel.

Dabei zielt das niedersächsische Konzept darauf ab, der Industrie die Vorkrisenverhältnisse von 2020 zu garantieren, als der Strompreis bei etwa sieben Cent pro Kilowattstunde gelegen haben soll. Für 2024 geht das Konzept von einem Börsenstrompreis von knapp 15 Cent aus, für 2026 von rund elf Cent.

Sechs Milliarden Euro jährliche Kosten

Spätestens Anfang 2024, so schlägt Niedersachsen vor, soll der Strompreis für die Industrie bei sieben Cent pro Kilowattstunde gedeckelt werden – und das zehn Jahre lang.

Profitieren von dem Sieben-Cent-Preis sollen hauptsächlich Unternehmen der chemischen Grundstoffindustrie, der Metallherstellung und -bearbeitung sowie aus den Bereichen Papier, Glas und Keramik. Auch neue Produktionsstätten für Batterien, Solarzellen, Windräder und Wasserstoff sollen in den Genuss des gedeckelten Preises kommen.

Die Kosten des niedersächsischen Vorschlags liegen laut dem Konzept bei anfangs sechs Milliarden Euro jährlich und hängen erwartungsgemäß auch von der Entwicklung des Strompreises ab. Das Geld soll aus vorhandenen Haushaltsgeldern kommen, vor allem dem Klima- und Transformationsfonds.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) lehnten am Dienstag den Vorschlag nicht direkt ab, äußerten aber unterschiedlich starke Bedenken. Scholz sagte, man könne höchstens nachschauen, wo man etwas nachsteuern müsse.

Eine sogar noch stärkere Reduzierung auf fünf Cent schlägt ein bereits Mitte April vom SPD-Bundestagsabgeordneten Bernd Westphal vorgelegtes Konzept vor. Der sogenannte Transformationsstrompreis soll einmalig für zwei Jahre auf fünf Cent festgesetzt werden, schlägt der Sprecher der Arbeitsgruppe Wirtschaft der SPD-Fraktion vor.

Nach den zwei Jahren soll dann eine Preisermittlung zu Wettbewerbsregionen stattfinden und nach fünf Jahren soll evaluiert werden, ob eine noch stärkere Absenkung nötig oder eine Anhebung des Preises möglich ist. Anders als Niedersachsen will Westphal einzelne Branchen nicht privilegieren und bevorzugt einen Zugang für den Mittelstand.

Billiger Strom gegen unverbindliche Transformationsversprechen

Ökonomen sehen einen möglichen subventionierten Strompreis für die Industrie kritisch. "Ich bin etwas skeptisch, ob das die richtige Strategie ist", erklärte die "Wirtschaftsweise" Veronika Grimm laut Medienberichten.

Für Sönke Nissen lesen sich die Vorschläge von Westphal, zugespitzt formuliert, wie eine Subvention für Industriekonzerne auf Kosten von Klima und sozialer Gerechtigkeit, wie der Energieexperte der Deutschen Umwelthilfe (DUH) gegenüber Klimareporter° erklärte.

Nissen stört es besonders, dass bei Westphal die Industrie sowie kleinere und mittlere Unternehmen den gedeckelten Preis gleichermaßen nach dem Gießkannenprinzip bekommen sollen und dafür auch keine Transformationsmaßnahmen durchführen müssen.

Tatsächlich sollen die begünstigten Unternehmen nur einen nicht näher erklärten "Transformationsplan" vorlegen, ist bei Westphal zu lesen. Nissen dazu: "Die versprochene Transformation ist damit nicht mehr als eine unwahrscheinliche Hoffnung. Eine positive Wirkung für das Klima sehen wir in dem Vorschlag nicht."

Eine pauschale Förderung wie über einen gedeckelten Strompreis hält der DUH-Experte für nicht zielführend. Sinnvoller seien gezielte Fördermaßnahmen bei konkreten Transformationsprojekten. Das biete auch eine höhere Investitionssicherheit, weil sich der Industriestrompreis stark verändern könne und so keine Verlässlichkeit geschaffen werde.

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