Ein junger Aktivist steht mit einem Megafon auf einer Wiese, weit im Hintergrund ist ein Industriebetrieb nur undeutlich zu erkennen, auf seinem Plakat steht auf Englisch: Handelt jetzt!
Dass die Bundesregierung jetzt handeln wird, steht außer Frage. Dass sie dabei die Forderungen der Zivilgesellschaft erfüllt und nicht die der Industrie, wäre überraschend. (Bild: Ground Picture/​Shutterstock)

Das deutsche Klimaziel für 2030? Um 65 Prozent sollen die Emissionen der Treibhausgase sinken – gegenüber 1990. Derzeit bewegt sich das deutsche Minus um die 40 Prozent und die Aussichten sind nicht gut.

Macht Deutschland weiter wie in den letzten Jahren, wird das Ziel bis 2030 nicht erreicht, warnt Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), am Dienstagvormittag auf dem diesjährigen Klimakongress des Verbandes.

Fast zu selben Zeit am Dienstag wirft auch Stefanie Langkamp vom zivilgesellschaftlichen Bündnis Klima-Allianz einen Blick in die Zukunft: Der Bundesregierung fehle ein schlüssiges Gesamtkonzept, wie Deutschland das Klimaziel erreichen kann, erklärt die Politikchefin der Klima-Allianz. Stattdessen wolle die Ampel sogar das Klimaschutzgesetz entkernen.

In einer Sorge sind sich deutsche Industrie und Klimabewegung offenbar einig: Stand heute erreicht Deutschland sein Klimaziel für 2030 nicht. Viel mehr Gemeinsamkeiten bestehen allerdings nicht.

Industrieproduktion und Export vor Klimaschutz

So stört ein "entkerntes" Klimaschutzgesetz Russwurm offensichtlich nicht. Der "größte anzunehmende Unfall" sei für ihn, wenn Deutschland das Klimaziel nicht erreicht und als Industrie- und Exportnation nach hinten durchgereicht werde, sagt der BDI-Chef.

Russwurm wörtlich: "Wir haben gar nichts gekonnt, wenn wir die CO2-Ziele einhalten, aber die Stärke dieses Landes als Industrie- und Exportland verlieren." Das sieht nach einer Prioritätenliste aus, die Klimaschutz erstmal an die zweite Stelle setzt.

Entsprechend schmerzt Russwurm am Dienstag vor allem das geringe "Deutschland-Tempo" bei der Bürokratie. 15.000 Genehmigungen für geplante Infrastrukturmaßnahmen stünden derzeit aus – und dann noch 5.000 für Unternehmen, die ihre Brennstoffe umstellen wollen, zählt der BDI-Präsident auf.

Als markantes Bürokratie-Beispiel greift Russwurm auf das bekannte Problem zurück, dass ein Windrad für den Transport von der Nordsee nach Bayern rund 150 Genehmigungen benötige. Er geht allerdings nicht so weit zu behaupten, der Windkraftausbau in Bayern scheitere vor allem an der schwierigen Genehmigungslage.

Aber der BDI-Chef verweist auch auf einen Thüringer Glashersteller, der seine Schmelze auf Strom umgestellt hat. Dem drohe jetzt ein zweistelliger Millionenbetrag an Zusatzkosten bei Strom, weil zum Jahresende der sogenannte Spitzenlastausgleich bei der Stromsteuer wegfalle.

Anhäufen von Subventionen und Ausnahmen für Industrie

Vom Spitzenausgleich profitieren energieintensive Unternehmen. Ihnen werden seit Einführung der Ökosteuer zur Jahrtausendwende bis zu 90 Prozent der Energie- und Stromsteuer erstattet. Mit der Streichung des Spitzenausgleichs will die Ampel 2024 im Haushalt 1,7 Milliarden Euro einsparen.

Eine ganz andere Sicht als Russwurm auf den Spitzenausgleich hat Carolin Schenuit. Die Vergünstigung zu verlängern, lehnt die Sprecherin der Klima-Allianz am Dienstag ab. Sie schlägt stattdessen eine Transformationsregelung vor, die Industrieunternehmen nur dann unterstützt, wenn sie sich in Richtung Klimaneutralität wandeln.

Ein gedeckelter Industriestrompreis für die Energieintensiven, wie er derzeit diskutiert wird, ist für Schenuit sogar das beste Beispiel, wie durch ein Aufeinanderhäufen von Ausnahmen, Förderungen und Sonderregelungen am Ende jede klimapolitische Lenkungswirkung verloren geht.

Als verzichtbar erscheinen Schenuit, zugleich Vorständin des Forums Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft (FÖS), seit Jahren alle umweltschädlichen Subventionen. Mit den bei einer Aufhebung frei werdenden 65 Milliarden Euro aus Steuergeldern, von denen besonders Gutverdienende und Unternehmen profitierten, würden Spielräume im Haushalt für Zukunftsinvestitionen in Klimaschutz und soziale Sicherheit entstehen, betont sie.

Drückt die Ampel beim Klimaschutz die Pausentaste?

In einem Debattenpapier, das die Klima-Allianz zu ihrem heutigen zweiten "Klimatag" vorlegt, wird auch das weiterhin ausstehende Klimageld als Eckpfeiler für eine sozial gerechte Klimapolitik angesehen. Die notwendige Erhöhung des CO2-Preises könne es nur in Kombination mit dem Klimageld geben, das die Einnahmen aus der CO2-Bepreisung an die Leute zurückverteilt.

Klimageld oder Industriestrompreis – auf diese kurze Formel lässt sich die derzeitige klimapolitische Debatte in Deutschland durchaus bringen. In den nächsten Monaten geht es um eine Richtungsentscheidung.

Für Stefanie Langkamp von der Klima-Allianz steht das Land an einem Punkt, an dem es so aussieht, als ob die Ampel-Regierung beim Klimaschutz die Pausentaste drücken könnte. Sie sei sich aber sicher, so Langkamp, dass 2024 doch noch weitere Klimamaßnahmen fällig werden, weil Deutschland beim Klimaschutz nicht auf Kurs ist.

Oder, wäre hinzuzufügen, sich vermutlich sogar noch weiter vom 65-Prozent-Ziel entfernt.

Beim Industriestrompreis gibt es übrigens keinen neuen Stand. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Anfang 2024 eingeführt werde, liege bei "fifty-fifty", wiederholte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) auf dem BDI-Kongress seine bekannte Prognose.

Offenbar ist die Wahrscheinlichkeit zurzeit größer als die, dass Deutschland noch sein Klimaziel für 2030 erreicht.

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