Grafik: Eine Pflanze, die aus einem Haufen Geldscheine wächst
Grafik: Kristin Rabaschus

Der Krieg in der Ukraine beflügelt den Streit um die sogenannte Taxonomie. Zur Erinnerung: Die EU-Kommission will Atomenergie und Erdgas als "Brückentechnologien" einen grünen Anstrich verpassen. Beide Technologien erfüllen danach zukünftig die ESG-Kriterien. ESG steht für "environmental, social and corporate governance", zu Deutsch Umwelt, Soziales und gute Unternehmensführung.

Es zeichnet sich ab, dass diese Nachhaltigkeitsregeln der EU für die meisten Banken, Fonds und Versicherungen zum Maßstab für ihre Investitionen werden – und für Produkte, welche an Abermillionen Kunden in den kommenden Jahrzehnten verkauft werden. "Taxonomie" mag daher im Kern ein spezielles Thema für Fachleute in der Finanzwirtschaft und Wissenschaft sein, aber sie geht uns alle an.

Bereits seit dem "Stern-Report", den der ehemalige Weltbank-Chefökonom Nicholas Stern 2006 der britischen Regierung vorlegte, arbeitet die Atomindustrie an einem Comeback. Mittlerweile bauen einige Länder neue Reaktoren oder planen sie. Stern hatte vor den wirtschaftlichen Folgen der globalen Erwärmung gewarnt und so eine neue Grundlage für die Klimadebatte geliefert. 

Angesichts der Rohstoffabhängigkeit von Russland hält es nun sogar Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) für grundsätzlich möglich, dass die letzten drei Atomreaktoren in Deutschland, die eigentlich Ende des Jahres vom Netz gehen sollen, weiterlaufen könnten. Energieversorger, Wirtschaft und mehrere Landesregierungen sympathisieren mit solchen Gedankenspielen. Auch den Weiterbetrieb von Kohlekraftwerken schließt Habeck nicht mehr aus.

Nun mögen Politiker beim Thema Energieversorgung noch unter dem Schock des Kriegsbeginns stehen. Schließlich lieferten russische Energiekonzerne wie Gazprom und Rosneft im vergangenen Jahr nach Angaben der Internationalen Energieagentur IEA 155 Milliarden Kubikmeter Erdgas, etwa 40 Prozent des Gasverbrauchs in der EU.

Auch bei Öl und Kohle hält Russland große Marktanteile. Und ein Ende dieser Abhängigkeit des Westens von fossilen Brennstoffen aus dem Osten ist nicht wirklich in Sicht. Dies gilt besonders für die Bundesrepublik.

Die "Mutter aller Nachhaltigkeit"

Strategisch weiter als üblicherweise die Politik blickt die Industrie. Das gilt dem Umstand entsprechend auch für die Rüstungsindustrie. Seit Monaten fordert sie von Regierungen und EU-Kommission, dass eine durch Waffen geschützte Sicherheit demokratischer Staaten als nachhaltig für die Gesellschaft eingestuft wird.

Auch der Bundesverband der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV) – seine Mitgliedsfirmen stehen für eine jährliche Bruttowertschöpfung von rund zwölf Milliarden Euro – warnt vor massiven Finanzierungsproblemen aufgrund der EU-Taxonomie. Banken und Versicherungen verweigerten der Branche ihre Leistungen, kritisierte Hauptgeschäftsführer Hans Christoph Atzpodien bereits im November im Gespräch mit der Börsen-Zeitung.

"Auffällig" sei, dass die Rüstungsindustrie "häufig schnell in schlechtes Licht gerückt" werde, speziell im Finanz- und Versicherungsbereich, beklagt der Verband nun erst recht. Investoren würden Firmen nur noch entgegenkommend unterstützen, wenn diese ESG-Kriterien folgen. Das mache die Finanzierung für die Industrie teuer. Eine Klage, die auch aus anderen Branchen zu vernehmen ist.

Dabei, so der BDSV, verkenne ein Ausschluss der Militärbranche aus Finanzprodukten nicht nur, dass sich die Unternehmen "vollumfassend an geltendes Recht halten" und "enorme Anstrengungen" zur Reduzierung ihres CO2-Ausstoßes unternähmen, sondern auch, welchen sicherheitspolitischen Beitrag die Rüstungsindustrie leiste.

"Durch die Ausrüstung von Militär und Sicherheitskräften tragen unsere Unternehmen fundamental zur äußeren wie inneren Sicherheit der Bundesrepublik bei." Ein Ausschluss der Konzerne aus Finanzierung und Versicherung gefährde diese Sicherheit akut.

Der frühere Thyssen-Krupp-Manager Atzpodien hält die Integration von Rüstungsinvestitionen in den ESG-Katalog für zwingend geboten. Schließlich sei "Sicherheit die Mutter aller Nachhaltigkeit".

Angefeuert wird die "Nachhaltigkeitsoffensive" der Branche durch die Ankündigung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), 100 Milliarden Euro zusätzlich für die Bundeswehr aufzuwenden. Andere EU-Staaten kündigen ebenfalls seit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine Hochrüstungsinitiativen an.

Wie bei Atomkraft und Erdgas hofft nun die Rüstungsindustrie – wie übrigens auch die Kohlewirtschaft –, dass die europäischen Regulierer der Finanzmärkte dem Sinneswandel von Politikern folgen werden.

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