Ausgerechnet um die Weihnachtszeit versetzte eine Meldung die Fachwelt in Aufruhr. Einem der größten und wichtigsten Gletscher der Welt, dem nach einem US-Glaziologen benannten Thwaites-Gletscher in der Westantarktis, droht der Kollaps.
Der Teil des Gletschers, der jetzt noch sein Abfließen bremst, wird nach neuesten Erkenntnissen schon in wenigen Jahren zusammenbrechen. Ohne diesen "Bremsklotz" rutschen die Eismassen noch schneller in den Ozean und lassen den globalen Meeresspiegel langfristig um 65 Zentimeter steigen.
Und auch die benachbarten Gletscher werden instabil. Das gesamte Eis der Westantarktis verschwindet schrittweise, was die Pegel dann um über drei Meter steigen lassen wird.
Die Nachricht fand viel Aufmerksamkeit, alle Medien berichteten von den "dramatischen Veränderungen" in der Antarktis und dem drohenden Untergang des Thwaites-Gletschers, der aufgrund seiner besonderen Bedeutung auch "Doomsday Glacier" genannt wird, "Weltuntergangsgletscher".
Doch kurz darauf war das Thema wieder aus den Schlagzeilen verschwunden – bis das nächste Mal alarmierende Forschungsergebnisse veröffentlicht werden über das schon lange nicht mehr "ewige Eis" unseres Planeten.
Das soll kein Vorwurf sein. Es ist nun einmal schwer, sich über einen längeren Zeitraum für etwas zu interessieren, das so weit weg passiert. Etwas, dessen Folgen, wie es scheint, erst in Jahrzehnten oder Jahrhunderten spürbar sein werden. Doch genau das ist ein Trugschluss.
Der Anstieg des Meeresspiegels ist eine stille Katastrophe. Etwas völlig anderes als Sturzfluten, die ganze Dörfer verwüsten, oder Waldbrände, die riesige Flächen in Rauch aufgehen lassen. Die Zerstörung durch die steigenden Pegel ist weniger spektakulär, eine schleichende Veränderung, die kaum und in vielen Regionen gar nicht wahrnehmbar ist.
Aber sie vollzieht sich eben kontinuierlich, jeden Tag, und ist damit genauso gefährlich wie andere klimabedingte Katastrophen, die mehr Aufsehen erregen. Wahrscheinlich sogar noch gefährlicher.
"Selbst ein Zentimeter Meeresspiegelanstieg hat erhebliche Auswirkungen auf die Küsten", sagt die Glaziologin Erin Pettit von der Oregon State University. "Die Flut fällt dadurch höher aus, Sturmfluten werden bei gleich starken Stürmen größer und die Erosion wird verstärkt."
Gefährlich wird es nicht erst, wenn die Küstenstädte unter Wasser stehen. Schon lange vorher verschlechtern sich die Lebensbedingungen von vielen Millionen Menschen.
Internationales Forschungsprojekt
Pettit forscht seit 20 Jahren zu Gletschern. Sie gehört zu dem Team, das den Thwaites-Gletscher in der Antarktis in einem auf fünf Jahre angelegten Forschungsprojekt vor Ort untersucht. Erste Ergebnisse stellten die Forschenden Mitte Dezember bei der Jahrestagung der Amerikanischen Geophysikalischen Union (AGU) in New Orleans vor.
Zuvor konnte die schwer zugängliche Region lediglich durch Satelliten sowie von Schiffen und Flugzeugen aus beobachtet werden. Dabei zeigte sich, dass der Gletscher, der so groß ist wie die Britischen Inseln, jährlich 50 Milliarden Tonnen Eis verliert. Die Geschwindigkeit dieses Abflusses hat sich in den vergangenen 30 Jahren verdoppelt.
Um sich die Sache näher anzuschauen, haben die Regierungen der USA und Großbritanniens vor drei Jahren das Forschungsprojekt International Thwaites Glacier Collaboration (ITGC) gegründet. Auch Deutschland, Schweden und Südkorea machen mit.
Anfang 2020, noch vor Corona, reiste das Team in die Antarktis und nahm Messungen vor, mit Bodenradar, GPS und einem Tauchroboter, der die Unterseite des Gletschers untersuchen konnte. Speziell geht es um das östliche Thwaites-Schelfeis, also die auf dem Meer schwimmende Eisplatte am Fuß des Gletschers, die ein Drittel des Gletschers abstützt und sein Abfließen ins Südpolarmeer bremst.
Diese tausend Quadratkilometer große Eisplatte ist an ihrer Oberfläche und Unterseite bereits von einem Netz aus kilometerlangen Rissen durchzogen. Die Fragmentierung ist so weit fortgeschritten, dass schon in drei bis fünf Jahren mit dem Zusammenbruch der Platte gerechnet wird. Die Forschenden sprechen von einem "Versagen" des Schelfeises (failure). Die Platte zerfällt dann in Hunderte Eisberge und kann nicht länger wie ein Korken auf der Flasche das weitere Abfließen von Eis aufhalten.
Unweigerlich wird sich damit der Beitrag des Thwaites-Gletschers zum globalen Meeresspiegelanstieg erhöhen. Derzeit liegt er bei vier Prozent. "Dieser Anteil wird sich schleichend auf viereinhalb bis fünf Prozent erhöhen", sagt Erin Pettit. "Das hört sich zwar gering an, aber tatsächlich ist Thwaites der Gletscher, der am stärksten zum Meeresspiegelanstieg beiträgt."
Vollziehen wird sich dieser Prozess langsam, aber unaufhaltbar. Unser Planet wird sein Gesicht verändern, das steht fest. Man kann das große Schmelzen nur verlangsamen – indem man den Ausstoß von Treibhausgasen verringert. Die Regierungen dieser Welt sollte das auf jeden Fall interessieren.