Rotbrauner, durch Trockenheit rissiger Boden, in dem eine einzelne kleine grüne Pflanze wächst.
Trockenheit in Indiens westlichem Bundesstaat Gujarat. (Foto: Renzo D'Souza/​Unsplash)

Indien droht erneut ein "Jahr ohne Frühling", nachdem im Wintermonat Februar in einigen Regionen bereits Rekordtemperaturen erreicht wurden. So zeigte das Thermometer in der Stadt Bhuj im Bundesstaat Gujarat ganz im Westen des Landes am letzten Donnerstag 40,3 Grad Celsius – die früheste Temperatur von über 40 Grad, die Indien je erlebt hat.

Die Situation erinnert an das vorige Jahr, als das Land mit seinen 1,4 Milliarden Einwohnern unter einer der heftigsten Hitzewellen in seiner Geschichte litt. Und in diesem Jahr könnte das pazifische Klimaphänomen El Niño die Lage noch verschärfen.

Das Wetter in dem großen Land spielte zuletzt Achterbahn. Der Januar brachte eine ungewöhnliche Kältewelle, und in vielen Landesteilen endete er mit heftigen Niederschlägen. Dann aber stiegen die Temperaturen rasant. Für Bhuj gaben die Meteorologen die Abweichung vom Normalwert nach oben mit zehn Grad an, an anderen Messstationen im Land lagen die Tagestemperaturen um sechs bis neun Grad höher als üblich.

Der indische Wetterdienst warnte denn auch am vorigen Wochenende vor der ersten Hitzewelle des Jahres mit deutlich über 30 Grad, die vor allem den Westen des Landes traf. 2022 hatte es das erst einen Monat später gegeben.

"Wir haben noch nicht einmal März, und es sieht bereits nach einer Wiederholung des vorigen Jahres aus, als der Frühling ausblieb", sagte der Klimaexperte Aditya Valiathan Pillai vom Thinktank Center for Policy Research in Neu-Delhi. Das Tempo der Veränderungen sei alarmierend.

Der Wetterdienst zog Parallelen zu den Wettermustern 2022. Auch damals habe eine sogenannte antizyklonale Strömung über dem Westen des Landes für die starke Erwärmung gesorgt, allerdings erst später im Jahr.

Klimawandel treibt Hitzewellen an

Sorgen macht die jüngste Entwicklung vor allem Agrarfachleuten. Sie befürchten, dass die indische Weizenproduktion erneut leiden könnte, die von halbwegs gemäßigten Temperaturen im Frühjahr abhängt. Sie beträgt üblicherweise rund 110 Millionen Tonnen jährlich und war im vorigen um rund zehn Prozent eingebrochen.

Aktionspläne gegen Hitzefolgen

In Indien gibt es in 23 der 29 Bundesstaaten sowie über 100 Großstädten und Bezirken Hitze-Aktionspläne, die die Bevölkerung von den Folgen von Extremtemperaturen schützen sollen. Sie umfassen unter anderem Frühwarnsysteme für die Einwohner, Schulungen für medizinisches Fachpersonal und Hilfen für eine bessere natürliche Kühlung von Gebäuden.

 

Der erste dieser Pläne wurde bereits vor rund zehn Jahren in der Millionenstadt Ahmedabad im nordwestlichen Bundesstaat Gujarat eingeführt. Nur ein kleiner Teil der indischen Bevölkerung lebt in Häusern mit Klimaanlage, im Jahr 2019 waren sieben Prozent der Haushalte damit ausgestattet.

 

Auf einer Konferenz von Indiens nationaler Katastrophenschutzbehörde und Behörden aus den Bundesstaaten wurde in der letzten Woche diskutiert, wie die Aktionspläne angesichts der stärkeren Hitzewellen verbessert werden können – etwa dadurch, dass die Maßnahmen früher eingeleitet werden. "Jedes Jahr scheinen sich diese Temperaturen um einen Monat oder so zu verschieben", sagte Dileep Mavalankar, Direktor des Indian Institute of Public Health in Gujarat, der maßgeblich an einigen der ersten dieser Pläne beteiligt war.

Indien, das der zweitgrößte Weizenproduzent der Welt ist, verbot daraufhin die Ausfuhr des Getreides. Das verschärfte die globale Versorgungskrise mit Getreide, die durch Russlands Krieg gegen die Ukraine ausgelöst worden war.

Hitzewellen sind in Indien alles andere als ungewöhnlich. Normalerweise treten sie in den Monaten April, Mai und Juni auf, bevor der danach einsetzende Monsun Abkühlung bringt.

Im letzten Jahr erlebten das Land und das benachbarte Pakistan jedoch eine ungewöhnliche Serie von Hitzewellen, die bereits im März einsetzte. In Indien waren es die heißesten März- und April-Monate seit Beginn der Wetteraufzeichnungen 1901. Die Höchsttemperaturen lagen Mitte Mai bei knapp 50 Grad. In der pakistanischen Stadt Jacobabad wurden sogar 51 Grad erreicht.

Die Hitze führte zu großflächigen Ernteausfällen und Stromabschaltungen, es kam zu schweren Waldbränden und in Bergtälern in Pakistan zu Sturzfluten durch rasch abschmelzende Gletscher. Die gesundheitlichen Folgen der Hitze waren ebenfalls gravierend, auch zahlreiche vorzeitige Todesfälle wurden ihr zugerechnet.

Der Klimawandel gilt als Haupttreiber hinter dieser Zuspitzung. Laut einer im vorigen Mai vorgestellten Studie der renommierten Forschungsgruppe "World Weather Attribution" waren die Hitzewellen in Indien und Pakistan von 2022 durch die globale Erwärmung rund 30-mal wahrscheinlicher als in einem unveränderten Klima geworden.

Dabei hatte das natürliche Klimaphänomen La Niña, das zu niedrigen Temperaturen im Pazifischen Ozean beiträgt und die Temperaturen in vielen Regionen der Welt kühlt, im letzten Jahr in Indien noch mildernd ausgewirkt. In diesem Jahr hingegen könnte die Erwärmung zusätzlich verschärft werden – durch La Niñas klimatisches Gegenstück, die Warmwasser-Anomalie El Niño.

2023 könnte neuen Erwärmungsrekord bringen

El Niño ist ein alle drei bis sieben Jahre wiederkehrendes Wetterphänomen, das großräumige Meeres- und Luftströmungen in Äquatornähe betrifft. Zu einem El Niño kommt es, wenn die Passatwinde über dem Pazifik nachlassen, die normalerweise für den Auftrieb von kühlem Wasser vor Südamerika sorgen. Viele Regionen auf der Südhalbkugel erleben dann Zeiten starker Hitze.

Ein intensives El‑Niño-Ereignis hat so zusammen mit der globalen Erwärmung dazu geführt, dass 2016 weltweit das heißeste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen war. Die letzten Jahre hingegen, in denen La Niña herrschte, kamen an den globalen Rekord nicht heran.

Das freilich könnte sich in diesem Jahr ändern. Ein deutsch-chinesisches Forschungsteam um den bekannten Klimaexperten Hans Joachim Schellnhuber erregte unlängst mit der Prognose Aufsehen, dass ein neuer El Niño im Laufe dieses Jahres die globale Temperatur mit rund 90-prozentiger Sicherheit fast weltweit spürbar hochtreiben wird – und zwar um 0,2 Grad.

Da das Plus gegenüber vorindustriellen Zeiten bisher im weltweiten Schnitt rund 1,2 Grad beträgt, käme die 1,5-Grad-Grenze aus dem Pariser Klimavertrag damit bereits in Sicht. Das Limit, das gemäß dem Abkommen möglichst nicht überschritten werden sollte, könnte nach den Berechnungen – veröffentlicht im Online-Portal Arxiv – "zumindest temporär schon im Jahr 2024 gebrochen werden".

Ob ein Überschreiten der 1,5 Grad die Lage für Indien noch einmal verschärfen würde, ist derzeit noch Spekulation. "Wird etwas Neues und Dramatisches passieren?", fragte der indische Klimaforscher Raghu Murtugudde vom Indian Institute of Technology in Bombay. Und gab selbst die Antwort: Das sei nicht gesagt. Er meinte es aber nicht als Entwarnung. Man befinde sich schließlich bereits jetzt "mitten in den Extremen".

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