Porträtaufnahme von Tim Meyer.
Tim Meyer. (Foto: Naturstrom)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrates erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Tim Meyer, Vorstand beim Öko-Energieversorger Naturstrom.

Klimareporter°: Herr Meyer, die Kritik an der Energiewende wächst. Zwei Drittel von 6.000 Befragten sind unzufrieden, wie die Transformation des Energiesystems läuft. Was ist Ihr größter Kritikpunkt an der gegenwärtigen Energiepolitik?

Tim Meyer: Vorab eine wichtige Klarstellung: Es wächst nicht die Kritik an der Energiewende, sondern an der Art und Weise, wie die Politik sie managt. Und da bin ich voll bei all jenen, die hier absolut unzufrieden, wenn nicht gar verzweifelt sind.

Die Bundesregierung und die Regierungsfraktionen sind seit Beginn der Legislaturperiode kaum handlungsfähig. Entscheidende Projekte der Gesetzgebung kommen nicht vom Fleck, sei es der Kohleausstieg, die nächste EEG-Novelle oder auch die dringend benötigte Streichung des Solardeckels, die eigentlich nur ein Federstrich wäre.

Bei einzelnen politischen Akteuren habe ich in den letzten Wochen den Reflex wahrgenommen, ausbleibende Entscheidungen in der Energiepolitik auf die Coronakrise zu schieben. Nach dem Motto: Wir ackern jetzt alle, damit die Wirtschaft nicht vollends zusammenbricht, bleibt uns währenddessen mit eurer Energiewende vom Leib.

Das finde ich unehrlich und zu kurz gedacht. Unehrlich, weil der Handlungsdruck in der Energiepolitik das Resultat monate- und jahrelanger Versäumnisse ist – also nicht durch die aktuelle Krise begründbar.

Und zu kurz gedacht, weil die Energiewende ein gewaltiges Innovations- und Investitionsprogramm ist, von dem langfristig alle Wirtschaftsbereiche profitieren. Das galt vor Corona und es gilt umso mehr, wenn wir nach Corona die Wirtschaft wieder anschieben müssen.

Am Mittwoch wurde der "Earth Day" zum 50. Mal begangen. Der Natur und dem Klima geht es aber schlechter als vor 50 Jahren. Was bringen uns solche "Feiertage"?

Solche Tage haben für mich absolut ihre Berechtigung, da sie dazu beitragen, ein wichtiges Thema weiterhin im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. Denn wer rettet denn – hoffentlich – Klima und Natur? Das sind Sie und ich! Da kommt keine höhere Macht, die uns das abnimmt. Insofern finde ich alle Ereignisse, die Menschen auf diesem Weg mitnehmen und begeistern, grundsätzlich gut.

Wegen stockender Lieferketten und Vorgaben zum Abstandhalten wachsen die erneuerbaren Energien in der Covid-19-Krise noch langsamer. Mit welchen Auswirkungen auf die Erneuerbaren-Branche rechnen Sie?

Im Projektgeschäft kommt es schon jetzt zu Verzögerungen. Die sind für alle Beteiligten schädlich, also für Zulieferer, Anlagenhersteller, Projektentwickler, ausführende Baufirmen – besonders treffen sie aber die Anlagenbetreiber. Denn bei kleineren Projekten mit fester EEG-Vergütung kann es passieren, dass sie bei einer späteren Inbetriebnahme dauerhaft eine geringere Einspeisevergütung erhalten.

Auch bei größeren Projekten sind – trotz einer Kulanzregelung der Bundesnetzagentur – in einigen Fällen Nachteile zu befürchten, da die gesetzlich definierte Förderdauer womöglich beginnt, ohne dass die Anlagen einspeisen. Da tickt also die Uhr.

Außerdem ist coronabedingt die Stromnachfrage von Gewerbe- und Industriekunden spürbar gesunken. Das bringt den ganzen Strommarkt durcheinander und wird wahrscheinlich dafür sorgen, dass die EEG-Umlage steigt. Das ist nicht per se schlimm, da ja zugleich die Preise an der Strombörse deutlich gesunken sind. Die Summe aus EEG-Umlage und Großhandelsstrompreis ist seit Jahren ziemlich konstant.

Aber wir wissen aus der Vergangenheit, dass eine steigende EEG-Umlage von Gegnern der Energiewende instrumentalisiert werden wird. Hier droht handfeste politische Gefahr.

Deshalb befürworte ich die von der Regierung im Rahmen der Corona-Hilfen diskutierte Absenkung der staatlich veranlassten Strompreisbestandteile. Hauptsächlich natürlich, weil dadurch in Zeiten der Krise Verbraucherinnen und Verbraucher entlastet würden. Aber eben auch, weil hierdurch eine erneute Debatte um die Kosten der Energiewende gemäßigt werden könnte.

In einer Serie stellt Klimareporter° Lösungen vor, um die Klimakrise zu verhindern. Was ist Ihr Klimaschutz-Tipp für jeden Einzelnen?

Da liegt für mich als Kind der Solarbranche die Lösung natürlich auf der Hand: mehr Erneuerbare, und zwar dezentral und zusammen mit den Menschen vor Ort! Ich bin ein großer Fan von lokalen Versorgungslösungen.

Also Strom und Wärme in der Immobilie, im Quartier oder Ortsteil mit Erneuerbaren erzeugen und so einen möglichst großen Teil des örtlichen Bedarfs decken. Das sind häufig ganz tolle Gemeinschaftsprojekte, bei denen sich viele Leute mit Herzblut einbringen.

Wer in einer Mietwohnung in einer Großstadt lebt und in seinem Umfeld keine Anknüpfungspunkte für solche Projekte sieht, kann mit dem allereinfachsten Schritt starten: Ökostrom beziehen, und zwar vernünftigen. Also bitte einen Tarif aussuchen, bei dem der Anbieter verpflichtend in erneuerbare Energien investiert, damit der Wechsel auch tatsächlich einen Effekt hat. Davon gibt es nicht viele, aber es gibt sie.

Und für viele sicherlich zunächst unbequem, aber extrem wirksam: In der derzeit erzwungenen Reisesparsamkeit lassen sich auch schöne Dinge und neue Chancen entdecken. Da der Mensch ein Gewohnheitstier ist, schafft es unsere Gesellschaft vielleicht auch nach Wegfall der Beschränkungen, nicht mehr ganz so viel in der Welt herumzujetten.

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Schön und auch ein bisschen überraschend fand ich ein Ergebnis des Sozialen Nachhaltigkeitsbarometers, also der anfangs erwähnten Umfrage des IASS Potsdam: 82 Prozent der Befragten sehen die Energiewende als "eine Gemeinschaftsaufgabe, bei der jeder, mich eingeschlossen, in der Gesellschaft einen Beitrag leisten sollte". Die Zustimmung ist gegenüber den Befragungen der Jahre 2017 und 2018 sogar noch gestiegen.

Mir macht dieses Ergebnis Mut. Auch in der Coronakrise sehen wir ja, wie gut diese riesige Gemeinschaftsaufgabe von der Breite der Bevölkerung angenommen wird. Nämlich mit Gemeinsinn, Kreativität und dem Mut zur Veränderung. Klar, die Klimakrise ist von ganz anderer Art als Corona, aber ich sehe mich bestärkt in meiner Überzeugung: Wir können diese Klimakrise bewältigen.

Fragen: Sandra Kirchner