Blick auf das Steinkohle-Kraftwerk Stuttgart-Gaisburg
Auch Steinkohle-Kraftwerke wie das in Stuttgart-Gaisburg müssen früher oder später vom Netz. (Foto: Klaus Enslin/​Wikimedia Commons)

Zu verstehen, warum deutsche Kohlekraftwerke eher weiterlaufen sollen, ist anspruchsvoll. Eine ordentliche Volte schlägt dafür heute der Branchenverband der traditionellen Energiewirtschaft, der BDEW.

Der Verband schaute sich an, wie sich gesicherte Kraftwerksleistung in Europa in den nächsten Jahren entwickelt, und entdeckte einen "Trend des Abbaus von Kohlekapazitäten sowie von Kernenergie". Die zurzeit in Europa vorhandenen Überkapazitäten bei Kohlestrom würden buchstäblich dahinschmelzen.

Von 2016 bis 2025 gehe in der EU die Leistung der Kohlekraftwerke um knapp 50.000 auf 105.000 Megawatt zurück. Zugleich wüchsen aber auch die Erneuerbaren stark.

Die Folge: Europa sei dabei, seine konventionellen, sicheren Kapazitäten zu reduzieren – deswegen müsse, schließt der BDEW, die Versorgungssicherheit ein zentraler Punkt in der momentan tagenden Kohle-Kommission sein. Die Nachbarn allein könnten es nicht richten. "Wir haben auch eine nationale Verantwortung", meint BDEW-Geschäftsführer Stefan Kapferer.

Was Kapferer damit, auf den Punkt gebracht, sagen will: Weil die Nachbarn aus Kohle und Atom aussteigen, werden sie unsichere Kantonisten – und Deutschland könne sich nicht darauf verlassen, möglicherweise fehlenden Strom von dort zu holen.

"Die Energiewirtschaft kann sich nicht zurücklehnen"

Derlei Ängste teilt dagegen der heute vorgestellte "Kohlereport" der Umweltstiftung WWF und des Ökostrom-Unternehmens Lichtblick nicht.  Alle Prognosen, wonach größere Anteile von Wind- und Solarstrom zu immer mehr Stromunterbrechungen führten, hätten sich bisher nicht bestätigt, heißt es darin. 

Im Gegenteil: In Deutschland liege die Dauer ungeplanter Stromausfälle umso niedriger, je mehr Sonne und Wind einspeisten. 2006, als Erneuerbare einen Anteil von elf Prozent an der Stromerzeugung hatten, sei der Strom im Durchschnitt für 21,5 Minuten ausgefallen. 2017 – bei genau einem Drittel Ökostrom-Anteil – waren es nur noch zwölf bis 13 Minuten.

Der "Kohlereport" kann auch im EU-Ausland keinen Hinweis finden, dass mit steigendem Anteil des Ökostroms die Versorgungssicherheit abnimmt. Das Atomstromland Frankreich komme auf gut 50 Minuten Stromausfälle pro Jahr, Großbritannien und Italien auf mehr als 90 Minuten, das Kohleland Polen 2014 sogar auf fast dreieinhalb Stunden.

Die Logik der Kohlekritiker ist mithin eine andere: Wenn alle Ländern Europas ihr Stromsystem ohne Atom und Kohle und mit Erneuerbaren sicherer gestalten – warum sollte das dann Deutschland nicht tun?  

Auch der Autor des "Kohlereports" Gerd Rosenkranz erwartet, dass Deutschland als Teil des europäischen Strommarkts in jeder Lage bis hin zu Extremsituationen abgesichert wird. "Das ist wissenschaftlicher Konsens. Die Bundesregierung hat sich auf Basis mehrerer Studien dazu entsprechend geäußert", erklärte Rosenkranz gegenüber Klimareporter°.

Auch die Klagen der Energiewirtschaft, dass bei ihr klimapolitisch draufgesattelt wird, weil andere Bereiche wie Verkehr, Landwirtschaft und Gebäude nicht liefern, kann Rosenkranz nicht nachvollziehen. "Es wäre ein großer Trugschluss zu glauben, die Energiewirtschaft könnte sich zurücklehnen, wenn nur die anderen Sektoren entsprechend dem Klimaschutzplan 2050 liefern würden", betont Rosenkranz.

Soll das deutsche Klimaziel für 2030 – minus 55 Prozent CO2 gegenüber 1990 – erreicht werden, müssten die Emissionen aus der Energiewirtschaft im selben Zeitraum um 60 Prozent sinken, rechnet er vor.

Kohleausstieg schnell beginnen, langsam enden lassen

Rosenkranz zufolge wird auch hier nur andersherum ein Schuh draus. Sollten Verkehr und Gebäude, wie von vielen erwartet, ihre Ziele verfehlen, müsste die Energiewirtschaft noch härter reduzieren, meint er. Ein Grund dafür: Die Branche verfügt über wirkliche Alternativen – Stichworte Erneuerbare und Effizienz. Am Ende gelte aber: "Alle müssen liefern, und ohne einen beschleunigten Kohleausstieg geht es nicht."

Aus der Sicht von Rosenkranz spricht viel dafür, gerade wegen der Kohle-Überkapazitäten mit einem schnellen und ambitionierten "Einstieg in den Ausstieg" zu beginnen und dann ein eher "moderates Auslaufen" der Kohle vorzusehen. Auch den Zeitpunkt, wann das letzte Kraftwerk abgeschaltet wird, hält er für diskutabel – für den Klimaschutz entscheidend sei, wie viel Kilowattstunden Strom insgesamt noch aus Stein- und Braunkohle kommen.