Das Kraftwerk Jänschwalde in der Lausitz gehört zu den ältesten und klimaschädlichsten Kraftwerken Deutschlands. (Foto: Friederike Meier)

Deutschland wird sein Klimaziel für dieses Jahrzehnt nicht schaffen, so weit, so bekannt. Es geht um ein Versprechen, das Deutschland schon 2007 gegeben hat, nämlich seine Treibhausgas-Emissionen bis 2020 um 40 Prozent gegenüber 1990 zu senken.

Allen Schätzungen zufolge wird allerdings eine Lücke von acht Prozentpunkten bleiben. Mit ihrem Koalitionsvertrag hat die Bundesregierung das Ziel mehr oder weniger aufgegeben. Dass das keine zwingende, sondern eine politische Entscheidung ist, zeigen jetzt neue Berechnungen des Fraunhofer-Instituts für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik (IEE) in Kassel.

Demnach sind nicht einmal wahnsinnig radikale Einschnitte nötig, um die acht Prozentpunkte aufzuholen und gleichzeitig eine sichere Stromversorgung zu garantieren. "Technisch ist das Klimaziel für 2020 problemlos erreichbar", sagt Fraunhofer-Wissenschaftler Norman Gerhardt, Koautor der im Auftrag von Greenpeace entstandenen Studie. Zusammen mit seinem Kollegen Jakob Kopiske schlägt Gerhardt einen Mix aus Abschaltung und Drosselung alter Braunkohlekraftwerke vor.

14 Braunkohleblöcke sollen abgeschaltet werden

Die Wissenschaftler haben auch vorgezeichnet, welche Kraftwerke dafür infrage kommen. Diese 14 Kraftwerksblöcke stehen auf der Liste:

  • Niederaußem C (Baujahr 1965)
  • Niederaußem D (1968)
  • Niederaußem H (1974)
  • Boxberg N (1979)
  • Boxberg P (1980)
  • Weisweiler E (1965)
  • Weisweiler F (1967)
  • Weisweiler H (1975)
  • Neurath A (1972)
  • Neurath B (1972)
  • Neurath E (1976)
  • Jänschwalde B (1982)
  • Jänschwalde C (1984)
  • Jänschwalde D (1985)

Insgesamt würde das 6.100 Megawatt weniger Nettokohleleistung bedeuten. Zum Vergleich: Union und Grüne hatten sich in den Verhandlungen um eine Jamaika-Koalition im vergangenen Herbst bereits auf die Stilllegung von 7.000 Megawatt geeinigt.

Außerdem sehen die Wissenschaftler vor, dass etliche Kraftwerksblöcke gedrosselt werden, nämlich von rund 7.000 auf 6.000 Volllaststunden pro Jahr. Entschieden haben sie vor allem nach dem Alter der Kraftwerke und danach, ob diese die effiziente Kraft-Wärme-Kopplung nutzen oder nicht.

Zudem haben sie berücksichtigt, wie hart Eingriffe die betroffenen Regionen treffen würden. "Für die Lausitz haben wir zunächst eher Drosselungen als Stilllegungen vorgeschlagen, damit dort mehr Zeit für den Strukturwandel bleibt", erklärt Gerhardt.

Das alles reicht der Studie zufolge aber nur, wenn die Bundesregierung ihre Pläne zum Ausbau der erneuerbaren Energien tatsächlich in die Tat umsetzt. Bisher zeichnet sich allerdings noch nicht ab, dass zum Beispiel die im Koalitionsvertrag versprochenen Sonderausschreibungen für Wind- und Solarstrom in Vorbereitung wären. Sollten sie ausbleiben, dann müssten nach Rechnung der Fraunhofer-Wissenschaftler noch zwei weitere Kraftwerksblöcke stillgelegt werden, nämlich Lippendorf S (Baujahr 1999) und Schkopau B (1996) im Braunkohlerevier bei Leipzig.

Natürlich gebe es auch andere Wege, das Ziel noch einzuhalten, meint Gerhardt. Ein CO2-Preis, der hoch genug ist, könne einer sein, so der Experte. Da die Bundesregierung aber schon signalisiert habe, dass sie gegen einen CO2-Preis sei, habe man das außen vor gelassen.

Dass die schwarz-rote Regierung jetzt schnell Stilllegungen beschließt, ist allerdings unwahrscheinlich. Erst kürzlich hat die Strukturwandel-Kommission ihre Arbeit aufgenommen, die bis Ende des Jahres kurzfristige Klimaschutz-Strategien für die nächsten zwei Jahre entwickeln soll. Jetzt Kraftwerksstilllegungen auf den Weg zu bringen, würde zumindest diesen Teil der Kommissionsarbeit vorwegnehmen. Das wäre aus strategischer Sicht sehr überraschend. Studien-Auftraggeber Greenpeace sitzt allerdings auch selbst mit in der Kommission, die morgen wieder tagt. Dass die Umweltorganisation die Ergebnisse dort einbringt, kann als sicher gelten.

Auch Greenpeace-Energieexpertin Anike Peters erwartet keine sofortige Kehrtwende der Regierung. "Es soll aber keiner mehr sagen können: Dass es so einfach ist, haben wir nicht gewusst", sagt die Umweltschützerin. "Wenn Deutschland sein Klimaziel ohne Not aufgibt, torpediert das jeden internationalen Ehrgeiz, den Planeten zu kühlen."

"Die größte Klima-Story, über die niemand spricht"

Der positive Einfluss auf die Klimaverhandlungen ist Deutschlands letzter Klimaschutz-Trumpf. Jedes Jahr veröffentlicht die Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch ein Staaten-Ranking nach den Leistungen im Klimaschutz. Deutschland landete im vergangenen Jahr auf Platz 22. Das ist nur Mittelmaß und passt nicht so recht zur Erzählung vom Energiewende-Pionier, von der Klimagipfel-Treibkraft, regiert von der Klimakanzlerin. Selbst diesen Platz erlangte Deutschland vor allem wegen seiner langfristigen Klimaziele (die zu erreichen jetzt in Frage steht), wegen des immer noch ordentlichen Ökostrom-Ausbaus (der aber nur ein Teil einer erfolgreichen Energiewende ist) und wegen der diplomatischen Erfolge.

"Wir bleiben Vorreiter beim Klimaschutz", schrieben Union und SPD in ihren aktuellen Koalitionsvertrag. Diese Vorstellung ist optimistisch, wenn nicht gar utopisch, solange es beim Kohleausstieg nicht vorangeht. Das Bild, das der Rest der Welt vom deutschen Klimaschutz hat, wandelt sich. Schon im vergangenen Jahr zeichnete sich ab, dass Deutschland seine Glaubwürdigkeit auf dem internationalen Parkett der Weltklimakonferenzen verliert.

In den Vorjahren war die Bundesrepublik immer ganz vorn mit dabei, wenn es darum ging, mit anderen Staaten Allianzen für stärkere Ziele und Bekenntnisse zum Klimaschutz zu bilden. Auf dem Weltklimagipfel in Bonn im vergangenen November sah das anders aus: Kanada und Großbritannien führten eine Koalition von Staaten an, die sich von der Kohleverstromung lösen wollen. Im Laufe des Gipfels schlossen sich zahlreiche Länder an. Deutschland blieb derartige Versprechen und selbst die schönen Worte schuldig.

Diese Diskrepanz zwischen Schein und Sein, zwischen UN-Verhandlungen und heimischer Klimapolitik ist jetzt auch in den internationalen Schlagzeilen angekommen. Dass Deutschland so viel in die Erneuerbaren investiert hat und sich nun nicht traut, die Bande zur Kohleindustrie zu kappen, sei "die größte Klima-Story, über die niemand spricht", schrieb am Mittwoch die New York Times in ihrem Klima-Newsletter.

Und das, obwohl anders als etwa in Polen gar nicht so viele Menschen in der deutschen Kohleindustrie arbeiten, wie das britische Fachmagazin Climate Home am Dienstag in einem Kommentar feststellte. Die US-Medienagentur Bloomberg titelte am Mittwoch sogar, Deutschlands "verfehlte Klimaziele" seien "ein Weckruf für Regierungen der ganzen Welt".