Norwegens Strom-Großverbraucher werben mit heimischer Wasserkraft, gleichzeitig verkauft das Land in großem Stil Herkunftsnachweise ins Ausland. (Bild: Henning Sørby/​Shutterstock)

In Norwegen kommt, ähnlich wie in Island (siehe Teil 1), fast der gesamte Strom aus erneuerbaren Energien. Wasserkraft und zu einem geringen Teil Windenergie versorgen auch hier viele stromintensive Industrieunternehmen.

Auch Norwegen ist Teil des Europäischen Wirtschaftsraumes und hat die EU-Regulierungen für Herkunftsnachweise umgesetzt. Anders als in Island gibt es Stromkabel, die Norwegens Stromnetz mit dem der EU verbinden.

Mehrere Analysen haben unabhängig festgestellt, dass es in Norwegen zu Doppelanrechnungen von erneuerbarem Strom kommt. Eine nur in norwegischer Sprache veröffentlichte Studie der Firma Oslo Economics im Auftrag des Ministeriums für Erdöl und Energie stellte dies bereits im Jahr 2018 fest, sie wurde allerdings international kaum wahrgenommen.

Im Jahr 2021 ließ der österreichische Stromkonzern Verbund die Situation in Norwegen durch die Rechtsanwaltskanzlei Becker Büttner Held untersuchen und stellte dieses Gutachten dem deutschen Umweltbundesamt zur Verfügung. Die Rechtsanwälte von Becker Büttner Held kamen dort zu einer bemerkenswerten Schlussfolgerung:

"Wenn im norwegischen Recht sowie der dortigen Verwaltungspraxis das Marktverhalten einer doppelten Ausweisung durch Unternehmen geduldet wird, spricht dies aus unserer Sicht außerdem generell gegen die Zuverlässigkeit des norwegischen Herkunftsnachweis-Systems."

In der deutschen Regulierung zu Herkunftsnachweisen heißt es, dass Herkunftsnachweise nur anerkannt werden sollen, "wenn keine begründeten Zweifel an der Richtigkeit, der Zuverlässigkeit oder der Wahrhaftigkeit des Herkunftsnachweises bestehen". Der Bericht von Becker Büttner Held legt also nahe, dass das Umweltbundesamt die Anerkennung von Herkunftsnachweisen aus Norwegen verweigern sollte. Dem folgte die Behörde allerdings nicht.

Die Existenz dieses Rechtsgutachtens war zunächst nicht öffentlich bekannt. Durch Zufall erfuhr der Autor davon beim Besuch einer Tagung des deutschen Herkunftsnachweisregisters beim Umweltbundesamt. Eine Anfrage über die Plattform Frag den Staat führte dann dazu, dass das Gutachten dort veröffentlicht wurde.

Doppelanrechnung schon nach Analyse der größten Stromverbraucher klar

Zuletzt analysierte auch die Forschungsstelle für Energiewirtschaft (FfE) die Situation im Rahmen eines Forschungsprojekts. Die FfE-Experten schauten sich dabei die fünf größten Stromverbraucher in Norwegen an. Bei allen fanden sich Werbeaussagen zur Nutzung von erneuerbaren Energien oder Wasserkraft. Insgesamt verbrauchen diese Unternehmen mehr Strom, als in Norwegen abzüglich der exportierten Herkunftsnachweise bereitsteht.

In Norwegen gibt es noch eine Besonderheit im Vergleich zu Island: Stromkunden, die nominell keinen Ökostrom beziehen, erhalten diese Information nicht auf ihrer Stromrechnung. Dort findet sich lediglich ein versteckter Link auf eine Webseite der dortigen Energiebehörde. Auf dieser kann man nachlesen, dass diese Stromkunden nominell 70 Prozent ihres Stroms aus fossilen Energien beziehen.

Der AIB, der Assoziation europäischer Behörden zur Ausstellung von Herkunftsnachweisen, dürften all diese Dinge bekannt sein. Trotzdem erklärt man dort: Es gibt zurzeit keine Untersuchung von Doppelanrechnungen in Norwegen durch die AIB.

Auf einer Veranstaltung erklärte AIB-Vertreterin Liesbeth Switten kürzlich noch, dass es hierzu keine Beschwerden von Marktteilnehmern gab. Sprich: Bislang hat sich offenbar kein einziger Ökostromanbieter bei der AIB über die Situation in Norwegen beschwert.

Norwegen ist im Markt der Herkunftsnachweise extrem dominant. Etwa 40 Prozent der Netto-Importe der EU stammen aus Norwegen. Die Gesamtexporte sind noch höher, es gibt auch einen florierenden grenzüberschreitenden Handel mit Herkunftsnachweisen.

Die aktuelle norwegische Regierung hatte ursprünglich Pläne, aus dem System der Herkunftsnachweise auszusteigen. Einige Unternehmen in Norwegen würden das begrüßen – sie müssten sich dann um mögliche Vorwürfe wegen Doppelzählungen von Ökostrom keine Sorgen mehr machen.

Doch bislang hat die Regierung keine konkreten Schritte unternommen, um dies umzusetzen, und es ist unklar, ob es überhaupt weiterverfolgt wird. Die Auswirkungen wären wohl drastisch: Der Ökostrommarkt in Deutschland wäre in der aktuellen Form ohne norwegische Importe nicht denkbar.

Trotz aller Probleme: Künftig dürften Herkunftsnachweise noch wichtiger werden.

Viele Unternehmen setzen in Klimaplänen auf Herkunftsnachweise 

In Plänen von Unternehmen, ihre Klimabilanz zu verbessern, spielen Herkunftsnachweise und ähnliche Zertifikatssysteme oft eine wichtige Rolle.

Stromzertifikate haben dabei eine ähnliche Rolle wie CO2-Ausgleichsmechanismen, sogenannte Carbon Offsets. Diese Ausgleichsmechanismen gerieten allerdings zuletzt immer stärker in die Kritik, da vielfach festgestellt wurde, dass sie in den meisten Fällen nicht zu tatsächlichen Emissionsreduktionen führen. Eine Recherche der Zeit und des Guardian legte nahe, dass 90 Prozent der Zertifikate für Waldschutzprojekte nutzlos seien.

Viele Unternehmen haben sich von derartigen Ausgleichszertifikaten verabschiedet, und Klagen gegen Behauptungen, dass damit Produkte "klimaneutral" werden, waren teilweise erfolgreich. Herkunftsnachweise haben ähnliche Probleme wie derartige CO2-Ausgleichsprojekte.

Wasserkraftwerke in Norwegen stecken nicht selten hinter den Klima-Versprechen von Unternehmen. (Bild: Henning Sørby/​Shutterstock)

Man könnte sogar argumentieren, dass die Probleme noch gravierender sind. Denn eine Zusätzlichkeit von Maßnahmen zu erreichen, wird bei Stromzertifikaten gar nicht versucht. Trotzdem gibt es an ihnen längst nicht so viel Kritik.

Eine Studie, die in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift Nature Climate Change veröffentlicht wurde, warnt, dass Ökostromzertifikate die Integrität der Klimaschutzpläne von Unternehmen untergraben. Dabei wird insbesondere auf die Science Based Targets Initiative (SBTI) Bezug genommen, eine Initiative, die nach eigenen Angaben Standards für wissenschaftsbasierte Klimapläne von Unternehmen erstellt.

Auch einige große IT-Unternehmen nutzen die Methoden der SBTI. Die SBTI hat im vergangenen Jahr einen Aufruf gestartet und sammelte Belege, die für oder gegen die Effektivität entsprechender Zertifikate sprechen.

Neben Unternehmensberichten spielen Herkunftsnachweise auch bei politischen Förderprogrammen eine Rolle oder interagieren mit anderen Regelungen.

EU-Kommission: Bestehende Regeln verhindern Doppelanrechnung

Bei der Förderung von grünem Wasserstoff und daraus hergestellten Derivaten – Stichwort E‑Fuels – will die EU nicht allein auf Herkunftsnachweise setzen. Es muss eine Zusätzlichkeit des verwendeten erneuerbaren Stroms nachgewiesen werden. Die EU hat Sorgen, dass zu lasche Kriterien dafür sorgen, dass erneuerbare Energien für eine relativ ineffiziente Produktion von Wasserstoff genutzt werden und dann an anderer Stelle fehlen.

Eine Möglichkeit, diese Zusätzlichkeit nachzuweisen, besteht darin, in einer Stromgebotszone mit über 90 Prozent erneuerbaren Energien zu produzieren. Das wäre etwa in Norwegen der Fall. Die Logik dahinter: Dort, wo bereits fast aller Strom erneuerbar ist, wird eine zusätzliche Nachfrage auch zu zusätzlichen erneuerbaren Energieanlagen führen.

Doch könnte man für diesen zusätzlichen Strom weiterhin Herkunftsnachweise in andere Länder verkaufen? Könnte man in Norwegen mit einem neuen Wasserkraftwerk grünen Wasserstoff produzieren – und gleichzeitig diesen Strom in Deutschland als Ökostrom verkaufen?

Klarheit gibt es dazu nicht, die entsprechende Delegierte Verordnung der Europäischen Kommission über erneuerbare Kraftstoffe nicht biogenen Ursprungs enthält aber einen bemerkenswerten Satz.

"Die Artikel 7 und 19 der Richtlinie (EU) 2018/2001 bieten ausreichende Garantien dafür, dass Strom, der für die Erzeugung von erneuerbarem Wasserstoff verwendet wird, nur einmal und nur in einem Endverbrauchssektor als erneuerbar geltend gemacht werden kann."

In anderen Worten: Die Europäische Kommission geht davon aus, dass die bestehenden Regulierungen bereits ausreichen, um ein solches Szenario zu verhindern.

Es bleibt dabei das Geheimnis der Kommission, warum beim Wasserstoff verhindert werden kann, was bei Aluminium und anderen Produkten gängige Praxis ist. Eine Anfrage dazu hat die zuständige Generaldirektion Klimapolitik der EU-Kommission nicht beantwortet.

Zweimal Industrieförderung für denselben Grünstrom

Auch nationale Förderprogramme führen zu fragwürdigen Effekten. In Norwegen können Unternehmen sich Kosten für indirekte CO2-Emissionen, die etwa durch den europäischen Emissionshandel anfallen, in manchen Fällen ausgleichen lassen. Dieser Ausgleich ist an die Nutzung einer bestimmten Menge erneuerbarer Energien gekoppelt. Diese wird ortsbasiert abgerechnet, sprich: In Norwegen verbrauchter Strom gilt überwiegend als erneuerbar.

Die Marktanalysefirma Veyt hatte berichtet, dass es hier Sorgen gab, dies könne angesichts der AIB-Prüfung von Island zu Problemen führen, und Überlegungen angestellt wurden, dies zu ändern. Allerdings hat nun die norwegische Umweltbehörde erklärt, dass es keine Änderungen geben wird.

In Deutschland wiederum wird bei Förderprogrammen auf Herkunftsnachweise gesetzt. Mittels Klimaschutzverträgen können sich Unternehmen Mehrkosten für innovative Technologien, die zu einer deutlichen Reduktion von Emissionen führen, erstatten lassen.

Wenn ein Unternehmen etwa Industrieprozesse elektrifiziert und sich das über Klimaschutzverträge fördern lässt, muss es nachweisen, dass es erneuerbaren Strom bezieht. Das geschieht durch Herkunftsnachweise, ohne irgendwelche weiteren Anforderungen an Zusätzlichkeit.

Industrieunternehmen hatten sich explizit gewünscht, dass hier nicht wie beim grünen Wasserstoff weitere Anforderungen hinzukommen.

Felix Seebach, bei BASF für Klima- und Energiepolitik zuständig, äußerte sich entsprechend bei einer Onlineveranstaltung des Thinktanks Agora Industrie im vergangenen Jahr. Seebach plädierte dafür, "auf ein europäisches Herkunftsnachweissystem zu gehen, das etabliert ist; auf einen glaubwürdigen Nachweis, dass der Strombezug grün ist, zu gehen".

Diese Regelungen führen letztendlich dazu, dass Unternehmen in Norwegen von Förderprogrammen profitieren können, weil sie lokal erneuerbaren Strom verwenden, während Unternehmen, die in Deutschland Förderung erhalten, sich hierfür denselben Strom mittels Herkunftsnachweisen anrechnen lassen können.

Lesen Sie hier Teil 1: Ökostrom darf wieder zweimal verkauft werden 

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