Wasserkraftwerk in Island: Wenn in Deutschland Ökostrom verkauft wird, stammt das Zertifikat dafür möglicherweise von hier. (Bild: Hanno Böck)

Die Energiewende hierzulande geht nur schleppend voran. In Island und Norwegen ist das anders. Dort stammt der Strom schon heute fast ausschließlich aus erneuerbaren Energiequellen. Noch dazu ist der Strom oft günstig – es sind attraktive Standorte für stromintensive Unternehmen, die gern und viel mit ihrem grünen Strombezug werben.

Doch dieser Ökostrom wird bereits anderweitig virtuell verkauft – in Ländern der EU, vor allem in Deutschland. Ein europäisches System von Ökostromzertifikaten sorgt dafür, dass Anbieter entsprechende Herkunftsnachweise erwerben müssen, wenn sie Ökostromtarife anbieten. Derselbe Ökostrom wird doppelt angerechnet.

Ein früherer Bericht des Autors über Doppelanrechnungen in Island hatte im April dazu geführt, dass der Export von Herkunftsnachweisen aus Island zeitweise gestoppt wurde. Dieser Exportstopp hielt jedoch nicht lange an. Inzwischen hat die verantwortliche Association of Issuing Bodies (AIB) erklärt, dass sie den Exportstopp dauerhaft aufgehoben hat.

Islands Stromsystem ist in vielerlei Hinsicht besonders. Das Land produziert seinen Strom fast ausschließlich aus Wasserkraft und Geothermie. Und: Island produziert sehr viel Strom – etwa 50 Megawattstunden pro Einwohner im Jahr und damit etwa achtmal so viel wie der Durchschnitt in der EU.

Verantwortlich für den hohen Stromverbrauch sind energieintensive Industriebranchen, die das Land in der Vergangenheit gezielt angeworben hat. Das Versprechen: viel Strom, und das günstig und sauber.

Niedrigste Energiepreise und viel sauberer Strom

Im Jahr 1995 warb die isländische Marketingbehörde MIL um internationale Unternehmen und versprach ihnen gute Voraussetzungen für die Ansiedlung von stromintensiven Industrien. MIL veröffentlichte eine Broschüre mit dem Titel "Lowest Energy Prices" (niedrigste Energiepreise). In der Publikation heißt es etwa:

"Energieintensive Industrien, die diese umweltfreundlichen Energieressourcen für die Herstellung von Industrieprodukten nutzen, tragen zum Schutz der globalen Atmosphäre bei und bewirken gleichzeitig Wunder für das ökologische Image ihres eigenen Unternehmens."

Besonders für Aluminiumunternehmen war das ein attraktives Angebot. Die Produktion von Aluminium benötigt enorm viel Strom. Heute gibt es in Island drei Aluminiumfabriken, die insgesamt etwa zwölf Milliarden Kilowattstunden und damit mehr als die Hälfte des gesamten isländischen Stroms verbrauchen.

Die isländische Strategie führte jedoch auch zu Kontroversen. Der Bau des Wasserkraftwerks Kárahnjúkar, des bislang größten Kraftwerks in Island, wurde von Protesten begleitet. Kárahnjúkar wurde für eine Aluminiumfabrik des US-Konzerns Alcoa gebaut.

Kárahnjúkar und die zugehörige Aluminiumfabrik Fjarðaáls wurden zwar trotzdem gebaut, beide gingen im Jahr 2009 in Betrieb. Aber die Energie- und Industriepolitik in Island war danach eine andere.

Eine weitere Aluminiumfabrik wurde nicht zu Ende gebaut, und der Energiekonzern Landsvirkjun erklärt heute, dass man für weitere energieintensive Fabriken der Metallindustrie keine Kapazitäten bereitstellen möchte. Man möchte eher Rechenzentren oder innovative Klimaschutztechnologien ins Land holen.

Zweifel an Islands Grünstrom-Zertifikaten schon 2012 

Die Europäische Union hat im Rahmen ihrer Richtlinie für erneuerbare Energien (RED) den Handel mit Ökostromzertifikaten geregelt. Ein Betreiber eines Erneuerbaren-Kraftwerks kann für den erzeugten Strom solche Herkunftsnachweise erzeugen lassen und diese dann verkaufen. Andere Unternehmen wiederum können damit ihren Kunden gegenüber passende Tarife anbieten.

Dieser Handel mit Herkunftsnachweisen kann dabei unabhängig vom tatsächlichen Stromhandel erfolgen. Im Fall von Island ist das besonders deutlich: Das Stromnetz des Landes ist komplett autark, es gibt keine Verbindung mit dem europäischen Festland.

Island ist zwar nicht Teil der EU, es ist aber Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums und hat als solches viele Regulierungen der EU übernommen. Seit dem Jahr 2012 gilt die entsprechende Regelung, und die isländische Stromnetzbehörde Landsnet, die für die Ausstellung von Herkunftsnachweisen zuständig ist, wurde Mitglied der Association of Issuing Bodies. Die AIB ist ein europaweiter Zusammenschluss von Behörden, die in den einzelnen Ländern für die Ausstellung von Herkunftsnachweisen zuständig sind.

Schon früh gab es Sorgen, dass bei den Herkunftsnachweisen aus Island nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Im belgischen Landesteil Flandern und in den Niederlanden wurden 2012 die isländischen Zertifikate zeitweise nicht anerkannt.

Zertifikatssysteme wie die europäischen Herkunftsnachweise sind umstritten, einige Wissenschaftler halten sie für weitgehend nutzlos. Ein wichtiger Punkt dabei ist, dass solche Zertifikate nicht unbedingt für zusätzlichen Ökostrom sorgen. Wenn Ökostromzertifikate für alte Wasserkraftwerke ausgestellt werden, die oft schon Jahrzehnte existiert haben, bevor dieses System überhaupt eingeführt wurde, ist schwer zu begründen, wie das der Energiewende helfen soll.

Matthew Brander, der an der Universität Edinburgh zu CO2-Märkten forscht, sagte im Gespräch: "Zurzeit gibt es keinerlei empirische Belege dafür, dass der Zertifikatsmarkt zu neuen Erneuerbare-Energie-Anlagen führt."

Island "verkauft" Ökostrom doppelt

Doch solche Sorgen um Zusätzlichkeit sind nicht das einzige Problem. In den vergangenen Jahren verkaufte Island Herkunftsnachweise im Umfang von etwa 15 Milliarden Kilowattstunden. Die Aluminiumfirmen, die alle damit werben, dass sie erneuerbaren Strom einsetzen, verbrauchen zusammen etwa zwölf Milliarden Kilowattstunden. Island produziert insgesamt aber nur 20 Milliarden. Es ist klar: Hier wird erneuerbarer Strom mehrfach angerechnet.

Ein Vertreter des Aluminiumproduzenten Alcoa erklärte es so: Alcoa nutzt einen ortsbasierten Ansatz zur Berechnung seines Strommixes. Dabei wird lediglich der Durchschnitt des Strommixes am jeweiligen Standort betrachtet – egal, was auf der Stromrechnung steht.

Häuser in Reykjavik von oben
100 Prozent Erneuerbare – damit wirbt Islands Hauptstadt Reykjavik, aber auch fast jedes im Land ansässige Industrieunternehmen. Da kann etwas nicht stimmen. (Foto: Sharon Ang/Pixabay)

Dieser ortsbasierte Ansatz ist keine Erfindung von Alcoa, er ist Teil des Greenhouse Gas Protocol, eines internationalen Standards zur Emissionsberichterstattung von Unternehmen. Laut dem Greenhouse Gas Protocol sollen Firmen sowohl mit einem ortsbasierten als auch einem marktbasierten Ansatz rechnen – letzterer berücksichtigt Instrumente wie die Herkunftsnachweise.

Doch womit Unternehmen dann werben, bleibt ihnen überlassen.

Besonders pikant ist die ganze Situation, da die Aluminiumunternehmen explizit mit dem Versprechen grünen und günstigen Stroms nach Island gelockt wurden, lange bevor es Herkunftsnachweise überhaupt gab. Alcoa hat sogar, wie das Unternehmen uns gegenüber bestätigte, einen Vertrag, in dem das Kraftwerk Kárahnjúkar erwähnt ist.

Jahre später bekam Alcoa von Landsvirkjun mitgeteilt, dass der Strom aus dem Kraftwerk Kárahnjúkar – einem Wasserkraftwerk – künftig nominell kein Wasserkraftstrom mehr ist – es sei denn, man kauft die Herkunftsnachweise dazu.

Als der Autor im vergangenen Jahr die auf europäischer Ebene zuständige AIB kontaktierte, erklärte diese, dass man über die Situation in Island schon lange Bescheid wisse.

Exportstopp nur für kurze Zeit

Die AIB reagierte allerdings erst, als die Sache öffentlich wurde. Nachdem der Autor dieses Textes vor mehr als einem Jahr den ersten Artikel zum Thema veröffentlicht hatte, setzte die AIB ein internes Panel ein, das die Sachlage überprüfen sollte.

Der Panel-Bericht wurde von der AIB nicht veröffentlicht, wir haben ihn aber zwischenzeitlich mithilfe des isländischen Informationsfreiheitsgesetzes erhalten. Er bestätigt, dass der Artikel des Autors Auslöser für die Einsetzung des Panels war.

Aufgabe des Panels war es in erster Linie festzustellen, ob die isländische Behörde Landsnet gegen die EECS‑Regeln verstößt. Auf diese Regeln für das europäische Energiezertifikate-System haben sich die Mitglieder der AIB geeinigt. (Ein bemerkenswertes Detail hierbei ist, dass diese EECS-Regeln regelmäßig geändert werden, alte Versionen der Regeln aber nicht öffentlich verfügbar sind.)

Das AIB-Panel stellte fest, dass Landsnet gegen mehrere der EECS-Regeln verstößt. So kam das Panel etwa zu dem Schluss, dass Landsnet die Ausstellung von Herkunftsnachweisen verweigern müsste, wenn die Behörde Kenntnis darüber hat, dass der dort angerechnete erneuerbare Strom bereits im Rahmen einer ortsbasierten Berechnung angerechnet wird.

Die internen Untersuchungen führten Ende April tatsächlich zu Konsequenzen: Die AIB sperrte Exporte von Herkunftsnachweisen aus Island. Auch das deutsche Umweltbundesamt reagierte und erklärte, dass es Herkunftsnachweise aus Island nicht mehr anerkennen wird.

Der staatliche isländische Stromkonzern Landsvirkjun reagierte auf die Sperre mit einer bemerkenswerten Mitteilung. "Im Wesentlichen handelt es sich um illegale, falsche und irreführende Informationen in Anzeigen und anderen Materialien, und die Regierung hat es versäumt, auf dieses wachsende Problem zu reagieren", erklärte Landsvirkjun.

Der Stromkonzern sah das Problem in erster Linie bei den energieintensiven Unternehmen, die mit der Öko-Eigenschaft ihres Stroms werben, ohne Herkunftsnachweise zu beziehen. Doch Landsvirkjun selbst wirbt ebenfalls regelmäßig damit, seine Kunden mit erneuerbaren Energien zu versorgen. So heißt es auf der Landsvirkjun-Website:

"Die Aluminiumherstellung in Island hat einen der niedrigsten CO2-Fußabdrücke weltweit, vor allem aufgrund der Tatsache, dass mit erneuerbarer Energie produziert wird."

Die Exportsperre hielt jedoch nicht lange an. Die AIB erklärte etwa einen Monat später, dass Exporte isländischer Herkunftsnachweise nun wieder zugelassen würden – obwohl die Probleme, wie die AIB selbst schrieb, nicht gelöst waren.

Druck auf das Umweltbundesamt

Das deutsche Umweltbundesamt hielt seine Sperre länger aufrecht. Deutschland ist der wichtigste Importeur von Herkunftsnachweisen, hinter den Kulissen machte Landsvirkjun Druck auf die deutsche Behörde.

Im Juni besuchte eine isländische Delegation Berlin. Es ging um Zusammenarbeit im Bereich Energie und Klimaschutz, in der isländischen Botschaft fand eine Konferenz statt. Teil der Delegation waren der isländische Energieminister und mehrere Vertreter von Landsvirkjun.

Während dieses Besuchs gab es hochrangige Gesprächen mit dem deutschen Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz. Dort wurde Druck auf das Umweltbundesamt ausgeübt. Die Sperre für isländische Herkunftsnachweise in Deutschland wollte Landsvirkjun unbedingt beendet sehen. Im Juli hob das Umweltbundesamt die Sperre auf, übt aber Kritik:

"In Staaten oder Regionen mit einem sehr hohen Anteil von erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung ermöglicht die alleinige Verwendung des ortsbasierten Ansatzes dem Unternehmen eine günstige Emissionsbilanz, ohne dass sich das Unternehmen aktiv und individuell für den Erwerb von Strom aus erneuerbaren Energien kaufmännisch entschieden hätte. Die Tatsache, dass dies nach den zugrunde liegenden Regularien möglich ist, stellt die Vertrauenswürdigkeit des europäischen Systems für Herkunftsnachweise und Stromkennzeichnung infrage."

Man sah aber keine Möglichkeit, mit den bestehenden Regularien eine Anerkennung weiter zu verweigern. Das Umweltbundesamt mahnte Verbesserungen an und schrieb: "Hier sind der deutsche und insbesondere der europäische Gesetzgeber gefragt."

Im November erklärte die AIB, dass es nicht zu einem erneuten Exportstopp kommen wird.

Kein "Double Counting", nur "Double Claiming"

Während die AIB im Juni noch mitteilte, prüfen zu wollen, ob Landsnet Doppelzählung und Doppelanerkennung effektiv verhindert, ist davon jetzt nicht mehr die Rede. Eine Erklärung dafür gibt es zunächst nicht, doch offenbar hat die AIB nun eine deutlich andere Einschätzung als noch im April.

Auch auf Nachfrage antwortet die AIB mit einer Erklärung, die wenig Klarheit bringt. Demnach will die AIB zu dem Schluss gekommen sein, dass Landsnet die Anforderungen erfüllt hat. Das Panel habe beschlossen, die Sperre final aufzuheben. Die Probleme würden nun weiter in Island behandelt, für die AIB sei die Sache aber erledigt.

Viel geändert hat sich nicht. Ein Aluminiumunternehmen – Norðurál – hat einige Sätze auf seiner Webseite verändert und behauptet nicht mehr direkt, 100 Prozent erneuerbare Energien zu verwenden. Doch andere Unternehmen werben weiterhin damit.

Wenige Tage nach der Entscheidung der AIB veröffentlichte die isländische Energiebehörde Orkustonun einen Bericht.

Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass keine Verletzung der Regeln vorliegt, und baut dabei vor allem auf ein Argument: Bei den Vorfällen in Island handle es sich nicht um "Double Counting", also Doppelzählungen, sondern lediglich um "Double Claiming", was man als doppelte Inanspruchnahme übersetzen könnte.

Orkustonun argumentiert so: Double Counting würde nur vorliegen, wenn derselbe Herkunftsnachweis mehrfach verwendet wird. Hier sei jedoch etwas anderes passiert: Unternehmen, die keine Herkunftsnachweise beziehen, werben mit erneuerbaren Energien. Das finde allerdings außerhalb des Systems der Herkunftsnachweise statt.

Dass eine solche doppelte Inanspruchnahme vorliegt, daran lässt der Bericht von Orkustonun keine Zweifel. Die Behörde hat mehrere energieintensive Unternehmen untersucht und kommt zu dem Schluss:

"Während energieintensive Verbraucher in Island behaupten, erneuerbare Energien zu nutzen, verfügt zum Zeitpunkt der Prüfung für 2022 keines von ihnen über Herkunftsnachweise, die diese Behauptungen vollständig untermauern."

Im Bericht wird erwähnt, dass es in Island ein Gesetz gibt, das Unternehmen entsprechende Behauptungen verbietet. Allerdings hält sich die Behörde nicht für zuständig, dieses Gesetz durchzusetzen, und offenbar auch sonst niemand:

"Es gibt keine konkreten Regelungen zum Umgang mit Fällen, in denen sich Stromverbraucher, die keine Herkunftsnachweise erwerben, auf den Standort beziehen und nicht auf Erklärungen von Elektrizitätsunternehmen über die Herkunft des von ihnen verbrauchten Stroms."

Zuletzt verweist Orkustonun auch darauf, keine Informationen darüber zu haben, dass eine entsprechende Kontrolle in anderen europäischen Ländern stattfindet. Es wird kein konkretes anderes Land genannt, aber es gilt als offenes Geheimnis in der Branche, dass eine doppelte Anrechnung von Ökostrom auch in Norwegen in großem Stil stattfindet.

 

Für Island hatte die kurze Episode der Exportsperre übrigens keine größeren Folgen. Im Gegenteil: Der Export von Herkunftsnachweisen boomt. Im Jahr 2023 hat Island bereits zwischen Januar und Oktober mehr Herkunftsnachweise exportiert als je zuvor. Die Netto-Exporte lagen bei etwa 19 Milliarden Kilowattstunden – fast die gesamte isländische Stromerzeugung. 

Lesen Sie hier Teil 2: Doppelanrechnung von Ökostrom auch in Norwegen

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