Unternehmen, wie Netflix, Gucci, Walt Disney oder Ben & Jerry's pumpen jedes Jahr Milliarden Dollar in den freiwilligen CO2-Zertifikate-Markt. Für die Umwelt, für das eigene Gewissen und natürlich die eigene Marke.
Der Schlüsselbegriff ist Offsetting. Das heißt so viel wie Ausgleich oder Kompensation. Das italienische Modeunternehmen Gucci zum Beispiel stößt bei der Produktion von Kleidung, dem Transport, der Heizung der eigenen Gebäude und so weiter CO2 aus. Jedes Jahr in etwa eine Million Tonnen.
Dennoch behauptet das Unternehmen, klimaneutral zu sein. Das funktioniert, indem Gucci CO2-Zertifikate kauft und damit die eigenen Emissionen kompensiert. Ein Zertifikat steht für eine Tonne CO2. Die Zertifikate sind die Währung, in der beziffert wird, wie viel CO2 ein bestimmtes Klimaschutzprojekt verhindert. So zumindest die Idee.
Tatsächlich verhindern die meisten Klimaschutzprojekte Emissionen und entnehmen der Atmosphäre kein CO2. Häufig handelt es sich um Waldschutzprojekte. Die Projektbetreiber:innen versprechen, dass die Wälder geschützt werden und somit kein CO2 durch Rodung entsteht.
Gucci etwa gibt an, die eigenen CO2-Emissionen ausschließlich über Waldschutzprojekte auszugleichen. Wie viele CO2-Zertifikate sich ein bestimmtes Projekt anrechnen lassen darf, regeln Zertifizierer.
Das sind Unternehmen, die Standards zur Berechnung der CO2-Einsparung eines Projekts entwickelt haben. Die unangefochtene Nummer Eins der Zertifizierungsorganisationen ist Verra. Drei von vier Projekten weltweit stehen unter der Aufsicht dieser gemeinnützigen Organisation mit Sitz in Washington.
Der von Verra entwickelte Verified Carbon Standard ist das Gütesiegel für den Offset-Markt weltweit.
90 Prozent der CO2-Zertifikate sind Müll
In einer neunmonatigen Recherche nahmen die beiden Zeitungen The Guardian und Die Zeit sowie die britische Investigativ-Plattform Source Material die Zustände bei Verra genauer unter die Lupe.
Die Journalist:innen ziehen die Bilanz, dass über 90 Prozent aller von Verra zertifizierten Waldschutzprojekte – die am häufigsten von der Organisation beaufsichtigten Projekte – wertlos sind.
Dafür werteten sie wissenschaftliche Studien über Verra-Projekte aus und führten Dutzende Interviews mit Wissenschaftler:innen, Buisness-Insidern und indigenen Gemeinschaften vor Ort.
In zwei Studien hat ein internationales Forschungsteam 29 der 87 Waldschutzprojekte untersucht, die momentan von Verra zertifiziert sind. Verra stellte diesen Projekten demnach Zertifikate für insgesamt 89 Millionen Tonnen CO2 zu viel aus. Mit anderen Worten: Unternehmen kompensierten 89 Millionen Tonnen CO2 mit Phantom-Zertifikaten.
Das entspricht ungefähr den jährlichen Emissionen von Österreich und Slowenien zusammen. Diese Zahl bezieht sich nur auf das Drittel der Waldschutzprojekte, das analysiert wurde. Es ist also anzunehmen, dass die tatsächliche Menge an Phantom-Zertifikaten wesentlich höher ist.
Ein System, das zur Manipulation einlädt
Wie kann so etwas passieren? Die Menge an CO2-Zertifikaten, die für ein Waldschutzprojekt ausgestellt werden, basiert auf komplizierten Berechnungen. Anhand eines von Verra standardisierten Verfahrens müssen Projektbetreiber:innen prognostizieren, wie viel Waldfläche in einem Gebiet in den nächsten Jahren abgeholzt werden wird, sollte nichts unternommen werden.
Die Differenz zwischen der prognostizierten und der tatsächlichen Entwicklung wird dann in eine CO2-Menge umgerechnet, und für diese dürfen CO2-Zertifikate ausgestellt werden. Denn ebendiese Menge CO2 soll durch das Projekt nicht in der Atmosphäre landen.
Das bedeutet aber auch: Je pessimistischer die Prognose einer Projektbetreiberin ausfällt, desto mehr CO2-Zertifikate lassen sich mit dem Projekt verkaufen. Zumal die Regeln von Verra einiges an Spielraum bieten. Das System lädt sozusagen dazu ein, zu manipulieren.
So wiesen laut dem Zeit-Artikel viele Angaben von Projektbetreiber:innen "kuriose Rechnungen und Bluffs" auf. Eine Studie der Uni Cambridge gibt an, dass Verra-Projekte die Gefahr von Waldverlusten im Durchschnitt um das Vierfache überbewerten.
Zudem trugen nur acht der 29 analysierten Waldschutzprojekte überhaupt dazu bei, die Abholzung deutlich zu verringern.
Verra widerspricht
Die Recherche bringt nicht nur Verra in Erklärungsnot. Unternehmen wie South Pole in Zürich oder Climate Partner in München führen Verra-zertifizierte Klimaschutzprojekte in ihrem Portfolio und vermitteln sie an Unternehmen. Viele transnationale Konzerne deklarieren Produkte und Dienstleistungen als "klimaneutral", indem sie sie mit Fake-Zertifikaten ausgleichen.
Der Guardian zitiert Barbara Haya, die das Berkeley Carbon Trading Project leitet: "Die Auswirkungen dieser Analyse sind enorm. Die Unternehmen nutzen CO2-Zertifikate, um Emissionsminderungen zu beanspruchen, obwohl die meisten dieser CO2-Zertifikate überhaupt keine Emissionsreduzierung darstellen."
Verra widerspricht den Vorwürfen vehement und stellt die in den Studien angewendeten wissenschaftlichen Methoden infrage. Die Organisation kritisiert, dass in den Studien die lokalen Bedingungen der Projekte nicht berücksichtigt werden, um das CO2-Einsparpotenzial zu berechnen.
David Coomes, Professor für Waldökologie in Cambridge und beteiligt an einer der Studien, erklärte dem Guardian: "Man kann mit Sicherheit sagen, dass es starke Diskrepanzen zwischen unseren Berechnungen und den Daten in den Datenbanken gibt, und das gibt Anlass zur Sorge und zu weiteren Untersuchungen. Längerfristig sollten wir uns auf einheitliche Methoden einigen, die an allen Standorten angewandt werden."