Erst eine Warnung. Wer sich wie ich für Klimaschutz einsetzt, die jetzige Klimapolitik bodenlos findet und froh ist, dass durch Fridays for Future und Extinction Rebellion der Protest prominent auf die Straße getragen wurde, wird das Folgende nicht gerne lesen. Es geht darum, welches Demokratieverständnis die Vordenker von Extinction Rebellion (XR) formulieren.
Deren ideologische Grundlagen hat einer der Gründer, Roger Hallam, in seiner Broschüre "Common Sense for the 21st Century" aufgeschrieben. Es ist zwar nicht deutlich, ob seine Ideen eins zu eins für XR gelten, allerdings finden sich auch auf den offiziellen Seiten der Bewegung entsprechende Versatzstücke.
Hallams Analyse ist, dass "Reformismus" und die bisherige Arbeit der Umweltbewegung nicht effektiv sind. Darum brauche es den störenden, gewaltfreien zivilen Ungehorsam – eben eine Rebellion. Das wird auch wissenschaftlich begründet mit Verweis auf historische erfolgreiche Bewegungen.
Es überrascht nicht, dass sich konservative Klimaschutzskeptiker an Extinction Rebellion abarbeiten und sie einerseits – so Ulf Poschardt in der Welt – bissig als klimapolitische Sekte mit "passiv-aggressivem Kirchentagslächeln" verspotten.
Oder andererseits die große Gefahr beschwören wie Rainer Hank, der in der FAZ die XR-Forderung nach Anerkennung eines "Klimanotstandes" umdeutet in eine "Notstandsverfassung", sprich in das Außer-Kraft-Setzen der Demokratie durch eine Ökodiktatur.
Das klingt erst einmal nach den üblichen hysterischen Reaktionen, wie wir sie schon von der Kritik an Fridays for Future kennen. Allerdings sollten sich auch die Freunde des Klimaschutzes die Mühe machen, sich genauer anzuschauen, ob da was dran ist.
Das Parlament soll entmachtet werden
Roger Hallam beschreibt eine politische Klasse und eine parlamentarische Demokratie, die permanent dabei versagt, wesentliche Probleme zu lösen. Schlimmer: Angesichts der "Wahrheit" des Klimawandels bezichtigt er die Regierenden des "Genozids".
Bezeichnenderweise kommt die Europäische Union dabei nur am Rande vor, obwohl wesentliche Bausteine der Klimapolitik in Brüssel gemacht werden und es eine rein nationale Klimapolitik im Rahmen der EU kaum gibt. Hallams Programm ist geprägt von der Ablehnung der parlamentarischen Demokratie in Westminster. Im Grunde ist es auch ein merkwürdig nationaler Blick auf Politik.
Martin Unfried
arbeitet an der Universität Maastricht am Institut für grenzüberschreitende Zusammenarbeit und Mobilität ITEM. Der studierte Politikwissenschaftler wurde als Kolumnist für die Tageszeitung Taz und andere Medien bekannt.
So fordert er tatsächlich, die Regierung soll im Laufe der Rebellion die Macht an eine "Verwaltung" (administration) übergeben, die den Klima- und Umwelt-Notstand ausruft und sofort entsprechende Maßnahmen dagegen ergreift.
"Bring down the government" heißt das Projekt – die Regierung zu Fall bringen. Von Wahlen ist dabei nicht die Rede. Dabei gehört dazu, dass das Parlament entmachtet wird – Zitat: "The National Citizens' Assembly will become the new governing body of the UK". Eine Bürgerversammlung soll also zum neuen Lenkungsorgan für das Land werden.
Und diese Bürgerversammlung, deren Mitglieder durch Auslosung bestimmt werden, soll dann die Gesetze erlassen zur Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft im Sinne des Klimaschutzes und der sozialen Gerechtigkeit jenseits der Wünsche der "alten politischen Klasse".
Das klingt so grotesk einfach gestrickt – von Gewaltenteilung ist schon gar nicht die Rede –, dass es verwundert, dass Hallam im Guardian im Namen von Extinction Rebellion schreiben darf, ohne dass sich innerhalb der Bewegung massiver Protest formiert gegen seine anti-demokratischen Zumutungen.
Auf den offiziellen Seiten von XR werden dann auch Hallams Putsch-Ideen etwas entschärft übernommen. Da heißt es – Zitat: "Die Regierung muss eine Bürgerversammlung zu Klima und ökologischer Gerechtigkeit einberufen und sich von deren Entscheidungen leiten lassen." Heißt also, die Regierung darf bleiben, das Parlament wird entmachtet.
Auf der deutschen Website von XR heißt es: "Die Regierung muss eine Bürger:innenversammlung für die notwendigen Maßnahmen gegen die ökologische Katastrophe und für Klimagerechtigkeit einberufen. Die Regierung muss nach deren Beschlüssen handeln."
Drängt sich die Frage auf: Was macht der Bundestag? Und was das Europäische Parlament? Und die Gerichte? Müssen die auch im Sinne der Bürgerversammlung agieren? Die Beschäftigung mit den ideologischen Grundlagen von XR ist nicht besonders angenehm.
Im ausführlichen Teil des deutschen Textes wird zwar darauf hingewiesen, dass "Entscheidungen der Bürger:innenversammlung nicht automatisch Gesetz werden, sondern erst vom Parlament angenommen werden müssten". Das entspricht allerdings nicht unbedingt der "Muss"-Formulierung der oben genannten Kernforderung.
Merkwürdigerweise heißt es dann weiter im Text, die Bürgerversammlung könne "selbstverständlich ausschließlich Entscheidungen treffen, die im Einklang mit dem Grundgesetz stehen". Viel Verwirrung also, denn ein beratendes Gremium trifft keine Entscheidungen.
Der Ansatz ist erschreckend unreflektiert in einer Zeit, in der in Großbritannien ein Premierminister die Legitimität des Parlaments massiv infrage stellt, um einen angeblichen Volkswillen durchzusetzen. Gerade Boris Johnson reklamiert eine Form von zivilem Ungehorsam für sich, wenn es um ein vom Parlament erlassenes Gesetz geht, das ihm nicht passt.
Recht und Gesetz oder Revolution?
Für manche Klimafreunde mag es vielleicht überraschend sein: Die Legitimität demokratischer Entscheidungen und "Law and Order" bei deren Durchsetzung sind wesentliche Bausteine einer erfolgreichen Klimapolitik.
Natürlich sind andere politische Mehrheiten, die mehr Klimaschutz versprechen, möglich. Gesellschaftliche Verschiebungen weisen in Deutschland darauf hin. Dies könnte schon kurzfristig zu anspruchsvoller Planung und Gesetzgebung führen, wie einem massiven Ausbau der erneuerbaren Energien und dem Abbau fossiler Kraftwerke im Sinne der Pariser Klimaziele.
Und nun wird es spannend: Gerade diese konkrete Klimapolitik, wie der Aufbau von Windparks an Land, muss auf der Basis von Recht und Gesetz geschehen. Man stelle sich nun vor, überzeugte Windenergiegegner mit Unterstützung der AfD entdecken das Instrument des zivilen Ungehorsams für sich und besetzen Bauplätze oder sägen an bereits gebauten Anlagen. Sie würden sich dabei auf eine höhere Wahrheit berufen, wie den Schutz der Bevölkerung vor Infraschall.
Was wäre die Antwort auf diese Aktionen aufseiten der Freunde des Klimaschutzes? Ich nehme an: "Law and Order".
Ich zumindest würde argumentieren, dass demokratisch zustande gekommene Beschlüsse zum Bau von Windkraftanlagen nicht einfach mit dem Argument einer höheren Wahrheit weggewischt werden könnten. Notfalls müsste der Bauplatz von der Polizei geräumt werden.
So merkwürdig das in den Ohren vieler Klimaaktivisten klingen mag: Eine konsequente Klimapolitik muss sich unbedingt auf Recht und Gesetz berufen und auf die Legitimität demokratischer Entscheidungen. "You cannot have your cake and eat it", wie es im Englischen so schön heißt.
Tatsächlich geht zumindest ein prominenter Vordenker von XR von einer Notstandssituation aus, in der eine vielleicht sinnvolle Bürgerversammlung nicht die parlamentarische Demokratie ergänzt, sondern in der letztere abgeschafft wird. Tatsächlich gehören Bausteine wie "absolute Wahrheit", "Notstandssituation" und Absetzung der "politischen Klasse" zu den Ingredienzen einer ordinären Revolution, die im Sinne eines höheren Ziels Demokratie erst einmal außer Kraft setzt.
Nicht die Aktionen von Extinction Rebellion, aber ihr ideologischer Mumpitz kann den Kampf um gesellschaftliche und politische Mehrheiten für konsequenten Klimaschutz erheblich gefährden. Zeit für eine Debatte.
Der Beitrag wurde um 18.30 Uhr ergänzt (deutsche XR-Website zur Bürgerversammlung) und korrigiert (vorletzter Absatz).
Lesen Sie dazu hier die Entgegnung von XR Deutschland: Aufrichtige Klimapolitik