Demonstranten hinter einem Transparent bei den Extinction-Rebellion-Aktionswochen im Oktober 2019 in London.
Demonstration von Extinction Rebellion während der Aktionswochen im Oktober in London. (Foto: Leo Mihatsch)

Während wir jetzt das zerstörerische Eintreten von Klima-Prognosen erleben, die viel zu lange nicht ernst genommen werden, steigen die globalen Treibhausgasemissionen weiter. Extinction Rebellion (XR) begreift zivilen Ungehorsam als Notwehr gegen die Untätigkeit von Regierungen, die wider besseres Wissen handeln. Uns bringt Verzweiflung, Wut und Trauer auf die Straße, doch unser Protest ist friedlich und respektvoll.

Und begründet: Die Bundesregierung ignoriert die gesetzliche und moralische Pflicht, angemessen zu handeln, denn ihre Klimapolitik steuert zielstrebig auf das Verfehlen der Ziele für 2030 zu. Sie ist dabei, ihre Zusagen innerhalb des Paris-Abkommens zu brechen. Dessen Vereinbarungen sind völkerrechtlich bindend.

Wir müssen tatsächlich über Recht und Gesetz reden. Und über Demokratie. Denn so emotional unser Protest auch sein mag, so vernunftgeleitet ist unser politischer Ansatz.

Die Erzählung, wonach die träge Demokratie im Angesicht der Klimakrise versagt habe und die Probleme nun in technokratischer Manier gelöst werden müssten, geistert in regelmäßigen Abständen durch Politik und Medien. Sie ist allerdings grundverkehrt und beruht auf mehreren Missverständnissen.

Nicht "die Demokratie" ist schuld, die Regierungen sind es

Erstens finden klimapolitische Zielvereinbarungen vor allem auf der globalen Ebene statt. Gerade hier existieren aber keine ausreichenden Formen demokratischer Beteiligung, weshalb man unzureichende Verhandlungsergebnisse auch nicht "der Demokratie" in die Schuhe schieben kann, sondern eher mutlosen bis unwilligen Regierungen, die zu einem großen Teil selbst nicht demokratisch legitimiert sind.

Porträtaufnahme von Julian Frinken.
Foto: Paul Volkert

Julian Frinken

arbeitet bei Extinction Rebellion Deutschland in der AG zu Bürger­versammlungen mit. Mit dem Gastbeitrag antwortet die Bewegung auf die Kritik des Politologen Martin Unfried, der Extinction Rebellion undemokratisches Vorgehen und nationale Verengung vorwirft.

Wir, die wir das Privileg genießen, in Deutschland und Europa in einem demokratischen System zu leben, müssen deshalb unsere Freiheiten wahrnehmen und unseren Regierungen umso nachdrücklicher Teilhabe abringen, um sie zum Handeln zu bewegen. In der Summe wird das globale Auswirkungen haben.

Zweitens beruht die technokratische und antidemokratische Perspektive auf der naiven Annahme, dass wir uns mit dem gleichen System aus der ökologischen Katastrophe herauswinden können, mit dem wir uns erst hineinmanövriert haben. Es bedürfe nur einiger technischer Reparaturen.

Das Gerechtigkeitsproblem der Klimakrise

Das verkennt auf überhebliche Weise die Ursachen sowie das tiefe Gerechtigkeitsproblem der Klimakrise: Diese ist keine unangenehme Begleiterscheinung, sondern systematische Folge eines auf fossilen Brennstoffen beruhenden und ausbeuterischen ökonomischen Exzesses, unter dem Menschen und andere Lebewesen auf dem Planeten jetzt und in Zukunft massiv leiden.

Klimapolitik kann nur aufrichtig sein, wenn sie diese Ursachen sowie die Gerechtigkeitsdimension reflektiert. Dabei muss der notwendige Wandel demokratisch von der Mehrheit einer informierten und mutigen Zivilgesellschaft getragen werden. Hierauf wirkt der Ansatz von XR hin.

Und schließlich drittens: Die Schuld der Demokratie in die Schuhe zu schieben lenkt davon ab, dass es vor allem treibhausgasintensive Industrien sind, die vernünftige Klimapolitik ausbremsen. In orchestrierten Kampagnen wird Zweifel an der menschengemachten Erderhitzung gesät und auf intransparente Weise wirksamer Lobbyismus betrieben.

Diese Machtausübung nach dem Recht des Stärkeren ist zutiefst undemokratisch und lässt sowohl Stimmen aus der Wissenschaft als auch aus der Zivilgesellschaft ungehört und frustriert zurück. Unser Ansatz zielt darauf ab, in einem transparenten Prozess genau diesen Stimmen Raum und Gehör zu verschaffen.

Natürlich wollen wir unsere parlamentarische Demokratie vor diesem Hintergrund nicht abschaffen. Dieser Irrtum beruht auf missverständlichen Aussagen des Mitbegründers Roger Hallam, die er allerdings nicht im Zusammenhang mit der Bewegung geäußert hat. Da unsere Bewegung dezentral und nicht hierarchisch ist, müssen wir von Extinction Rebellion Deutschland uns diese Aussagen nicht zu eigen machen.

Parlamentarismus konstruktiv ergänzen

Wir möchten unser parlamentarisches System vielmehr konstruktiv ergänzen, denn dieses hat durchaus auch ein strukturelles Problem: Es ist nicht ausreichend darauf ausgelegt, mit langfristigen Herausforderungen wie der Klimakrise angemessen umzugehen.

Wahlperioden von vier Jahren begünstigen kurzfristiges Denken und Handeln. Die Entfaltung von tief greifendem Wandel ist im ständigen Konkurrenzkampf um Wählerstimmen kaum zu vermitteln. Dem möchten wir mit unserer dritten Forderung begegnen: Die Einberufung einer Bürgerversammlung gegen die ökologische Katastrophe und für Klimagerechtigkeit.

Die Bürger:innenversammlung ist ein Gremium von per Los bestimmten Bürgerinnen und Bürgern, das über einen begrenzten Zeitraum zu einer konkreten politischen Fragestellung arbeitet. Das Losverfahren ist dabei so gestaltet, dass die Teilnehmenden möglichst repräsentativ für die gesamte Bevölkerung stehen.

Sie werden zunächst in einer öffentlichen Phase von Fachleuten und Betroffenen umfassend über das Thema informiert und erarbeiten in moderierten Kleingruppen anschließend Lösungsempfehlungen.

Eine ausführlichere Fassung dieses Textes erläutert unter anderem die Entscheidungsfindung in den Bürgerversammlungen.

Es wird darauf geachtet, dass der Austausch offen, respektvoll und fair ist. Alle Perspektiven sollen angehört und Argumente gemeinsam abgewogen werden.

Innerhalb der Versammlung wird dann über die Empfehlungen abgestimmt, wobei einstimmige Ergebnisse nicht zu erwarten sind. Doch grundsätzlich sind die Beratungen an Konsens und Verständigung orientiert und führen in der Praxis dazu, dass die Bürger "näher zusammenrücken".

Ein abschließender Bericht über die Ergebnisse und Begründungen dient nicht nur als Grundlage und Anstoß für eine breite öffentliche Debatte, sondern wird auch in die politischen Institutionen weitergereicht.

Regierung darf Empfehlungen nicht ignorieren 

Die Empfehlungen der Bürgerversammlung bedürfen einer mehrheitsdemokratischen Legitimation durch das Parlament. Damit sie nicht einfach ignoriert werden, müssen deshalb strenge formale Verbindlichkeiten festgehalten werden.

So muss die Bundesregierung selbst die Bürgerversammlung einberufen und sich im Voraus dazu verpflichten, deren Empfehlungen zur detaillierten Ausarbeitung und zur Beschlussfassung dem Parlament vorzulegen.

Außerdem muss die Regierung zusagen, zu allen Empfehlungen der Versammlung formal Stellung zu nehmen und sich insbesondere zu rechtfertigen, wenn einzelne Maßnahmen nicht umgesetzt werden.

Betrachtet man die unverantwortliche klimapolitische Untätigkeit und die eher ablehnende Haltung gegenüber wirksamer Einbindung der Bürger seitens der Bundesregierung, so ist die Angst berechtigt, dass die Empfehlungen ignoriert werden könnten.

Wenn wir also fordern, dass die Regierung nach den Beschlüssen der Versammlung handeln muss, dann zielt das darauf ab, die Regierung entsprechend in die Pflicht zu nehmen. Das heißt, dass sie die Beschlüsse als handlungsleitend begreifen sollte und die genannten Schritte einleiten muss. Eine Verpflichtung zur unmittelbaren Umsetzung kann und soll damit nicht gemeint sein.

Bürgerversammlungen funktionieren

Bürgerversammlungen sind in vielen Ländern bereits gelebte demokratische Praxis. Unter anderem in Irland, Kanada, Australien und Belgien konnten solche Versammlungen lokale und nationale Politik bereichern. In Deutschland tagte vor einigen Wochen der von privaten Initiativen ins Leben gerufene "Bürgerrat Demokratie".

Selbst im Bereich der Klimapolitik werden solche Verfahren zunehmend eingesetzt: in Irland bereits 2018, in Frankreich seit diesem Oktober und in Großbritannien voraussichtlich noch diesen Herbst.

Auch wenn solche Entwicklungen positiv sind, beschäftigen sich diese Beispiele bislang noch nicht mit Fragen, die angesichts der Herausforderungen weitreichend genug wären. Doch sie zeigen auch, dass Erfahrungen und Expertise existieren, an die sich anknüpfen ließe.

Nicht nur das irische Beispiel, sondern auch viele Studien zeigen, dass deliberative Verfahren wie Bürgerversammlungen in der Lage sind, reflektierte und gemeinwohlorientierte Ergebnisse hervorzubringen. Entsprechend positiv äußert sich David Farrell, Politologieprofessor und Mitinitiator der irischen "Citizens' Assembly", zur Forderung von Extinction Rebellion.

Demokratie muss aktiv erhalten werden

Die Bürgerversammlung ist allerdings nur eine von vielen Maßnahmen. Wir kommen nicht um die breite gesellschaftliche Debatte herum. Wir müssen über Gerechtigkeit reden, über unser Verständnis von Freiheit und Verantwortung. Und wir müssen eine mutlose Regierung dazu bewegen, die ökologische Krise anzuerkennen und entsprechend zu handeln.

Demokratie ist kein starres Konzept, das sich für immer hält, sobald man es einmal errichtet hat. Demokratie ist lebendig. Sie wird herausgefordert und muss aktiv durch uns erhalten werden.

Wenn unsere Institutionen es bislang nicht schaffen, auf die größte Herausforderung unserer Zeit auch nur im Ansatz angemessen zu reagieren, dann ist unser Protest nicht antidemokratisch, sondern ein legitimer Einsatz für die durch unverantwortliche Politik verletzten Rechte jetziger und zukünftiger Generationen.

Genauso ist der Ruf nach Reformen keine Ablehnung, sondern eine Belebung des demokratischen Systems. Wir wissen, dass wir als Gesellschaft die Möglichkeit haben, unseren eingeschlagenen Weg zu reflektieren und seine Richtung grundlegend zu verändern. Diese Möglichkeit bietet uns aber nur eine lebendige Demokratie.

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