Klimastreik im australischen Brisbane, im Vordergrund ein
Proteste gegen die Kohlegrube Carmichael, die der indische Adani-Konzern in Australien aufschließen will, gibt es seit Langem. Hier beim Schulstreik in Brisbane im vergangenen September. (Foto: Stephen Hass/Flickr)

Vor knapp einem Jahr legte die britische Zeitung The Guardian eine Auswertung zur Lobbyarbeit der fossilen Industrie im australischen Bundesstaat New South Wales vor, der derzeit besonders stark von den verheerenden Bränden betroffen ist.

Zwischen 2014 und 2018 trafen sich Mitglieder der Regierung von New South Wales demnach jede Woche mit Vertretern von Kohle- und anderen Bergbaukonzernen. Insgesamt erhielt der Bergbausektor zehnmal mehr Gesprächstermine als Umweltorganisationen.

Diese Asymmetrie ist nicht auf New South Wales beschränkt. Praktisch überall haben Industrielobbyisten – auch und gerade Lobbyisten der fossilen Industrie – einen privilegierten Zugang zu politischen Entscheidungsträgern. In überproportionalem Maße können sie die Zeit von Regierungsvertretern in Anspruch nehmen, ihre Forderungen und Sichtweisen darlegen und ihre Narrative verankern. Das gilt auch für Europa – in Brüssel genauso wie in Berlin.

Dass diese Treffen stattfinden, erfährt die Öffentlichkeit in aller Regel nicht. Auch das gehört zur Asymmetrie. Die Industrielobby muss nicht erst die Öffentlichkeit mobilisieren, um ihre Forderungen unterzubringen. Sie lässt einfach einen Gesprächstermin mit einem Minister vereinbaren.

Ganz anders die Umwelt- und Klimabewegung. Sie hat nach Lage der Dinge kaum ein anderes Mittel in der Hand, als mit ihren Anliegen in die Öffentlichkeit zu gehen und dort für Aufmerksamkeit zu sorgen. Mit Demonstrationen, Protestaktionen et cetera.

Eigentlich ist alles beschlossen

Insofern ist Fridays for Future und anderen Gruppen mit dem Siemens-Adani-Thema ein erstaunlicher Coup gelungen.

Eigentlich ist bei dem hochproblematischen australischen Kohle-Projekt, das der indische Adani-Konzern plant, der Zug längst abgefahren. Trotz massiver Proteste genehmigte Premierminister Scott Morrison im vergangenen April die Carmichael-Mine. Damit war der Aufschluss des zweitgrößten Kohletagebaus der Welt beschlossene Sache.

Hochproblematisch ist das Projekt aus vier Gründen.

Erstens soll die Steinkohle auf ehemals geschützten Gebieten der Ureinwohner abgebaut werden.

Zweitens widerspricht das Projekt dem Pariser Klimaabkommen, das für 2050 Klimaneutralität vorsieht. Der Kohleabbau soll aber weit über den Zeitpunkt hinaus stattfinden. Zudem befinden sich in dem Gebiet weitere Kohlevorkommen, die künftig auch noch aufgeschlossen werden könnten.

Drittens würde das Megaprojekt, das fünf Untertage-Bergwerke und sechs Tagebaue umfasst, riesige Mengen an Wasser verbrauchen, während die Region ohnehin schon mit Trockenheit und Dürre zu kämpfen hat.

Viertens gehört zu dem Kohleprojekt eine 200 Kilometer lange neue Bahnstrecke, die die Abbaustätte mit der nordostaustralischen Küste verbindet. Der Hafen von Abbot Point, von dem aus die Kohle für den Export verschifft werden soll, wird bereits zum weltgrößten Kohlehafen ausgebaut.

Er liegt in unmittelbarer Nähe zum Naturschutzgebiet um das Great Barrier Reef. Das durch den Klimawandel bereits jetzt stark geschädigte Riff wird durch den Schiffsverkehr mit großer Sicherheit weiter zerstört. (Erst nach Protesten wurde zugesagt, den Abraum des Hafenausbaus nicht einfach in das Korallenriff zu kippen.)

Greenwashing wäre offensichtlich

Bei der Bahntrasse kommt nun Siemens ins Spiel. Der Konzern soll die Signaltechnik liefern und damit das Projekt ermöglichen helfen.

Seitdem Fridays for Future und andere Klimaschutz-Organisationen gegen das Siemens-Engagement protestieren und damit Öffentlichkeit hergestellt haben, hat Siemens ein Glaubwürdigkeitsproblem.

Wirtschaftlich fällt der Auftrag für Siemens nicht besonders ins Gewicht. Er ist nur knapp 20 Millionen Euro schwer. Entscheidend ist, wie Siemens am Schluss mit seinem Image dastehen wird.

Der Konzern will auf der Seite der Klimaschützer stehen. Im September 2015 hat sich das Unternehmen zum Ziel gesetzt, bis 2030 klimaneutral zu werden. Die Beteiligung an einem Kohleprojekt, das bis weit in die zweite Jahrhunderthälfte riesige Mengen an CO2 verursacht, konterkariert diese Unternehmensstrategie.

Liefert Siemens tatsächlich die Signaltechnik, müsste der Konzern mit dem Vorwurf leben, nur Greenwashing zu betreiben. Die Positionierung als klimafreundliches Unternehmen, um die sich Siemens bemüht, wäre infrage gestellt.

Liefert Siemens hingegen die Technik nicht, würde dies die Klimaschutz-Ambitionen des Unternehmens deutlich aufwerten. Laut Berichten haben Firmen wie Alstom und Hitachi Rail, die ebenfalls hätten liefern können, bereits abgelehnt, sich an dem Adani-Projekt zu beteiligen.

Offenbar blieb nur Siemens übrig, um die Technik zu liefern. Andernfalls hätte Adani große Probleme, Ersatz zu finden. Eine Entscheidung von Siemens gegen das Projekt wäre ein weit ausstrahlendes Signal für ernsthaften Klimaschutz.

Was wiegt schwerer?

Andererseits sind die Verträge laut Siemens-Chef Joe Kaeser bereits unterschrieben. Kaeser hat somit ein doppeltes Glaubwürdigkeitsproblem. Beziehungsweise, er muss sich entscheiden, welche Art von Glaubwürdigkeit ihm wichtiger ist.

Ist es die Glaubwürdigkeit, als verlässlicher Geschäftspartner dazustehen, der zu einem einmal gegebenen Wort steht, also unterschriebene Verträge auch erfüllt?

Oder ist es die Glaubwürdigkeit als ein Unternehmen, das Klimaschutz wirklich ernst nimmt und dabei konsequent agiert?

Wie Joe Kaeser dabei in den vergangenen Tagen agiert hat, ist durchaus aufschlussreich. Seine Strategie könnte man so umschreiben: Er versucht, die öffentliche Meinung auf seine Seite zu ziehen, um sich beide Arten der Glaubwürdigkeit gleichzeitig zu sichern.

Greta Thunberg

hat sich am Samstag ebenfalls in die Diskussion um den Siemens-Auftrag für Adani eingeschaltet. Auf Twitter schrieb die schwedische Klimaaktivistin, die Siemens-Manager hätten jetzt die Möglichkeit, den Aufschluss der australischen Mega-Mine zu stoppen oder zumindest zu unterbrechen. "Am Montag werden sie ihre Entscheidung verkünden. Bitte helft mit, Druck auf sie auszuüben, damit sie die einzig richtige Entscheidung treffen."

Am Freitag lud Kaeser Luisa Neubauer und Nick Heubeck von Fridays for Future zu einem Gespräch ein. Gleichzeitig protestierten Fridays-Aktivisten an über 20 Standorten von Siemens in Deutschland.

Nach dem Treffen kündigte Kaeser an, der Siemens-Vorstand werde am Wochenende über den Adani-Auftrag beraten und am Montag eine Entscheidung bekannt geben.

Neubauer hingegen sagte, Siemens wisse genau, was auf dem Spiel stehe. "Wir erwarten daher weiterhin von Siemens ein klares Bekenntnis zu den Klimazielen von Paris, dies kann nur eine vollständige Abkehr vom Adani-Projekt bedeuten."

Als weiteren Schachzug bot Kaeser Luisa Neubauer einen Sitz in einem Aufsichtsgremium der neuen Gesellschaft Siemens Energy AG an. Mit dieser Umarmungsstrategie wäre es für den Siemens-Chef leichter gewesen, den Forderungen von Fridays for Future nicht nachzugeben, da er darauf hätte verweisen können, dass er ja ein Angebot gemacht hat und die Gegenseite nicht mit leeren Händen dasteht.

Umarmungsstrategie geht nicht auf

Luisa Neubauer lehnte das Angebot ab. Sie begründete dies damit, dass sie dann den Interessen des Unternehmens verpflichtet wäre und Siemens nicht mehr unabhängig kommentieren könne. "Das ist nicht mit meiner Rolle als Klimaaktivistin zu vereinbaren."

Stattdessen schlug Neubauer Kaeser vor, den Posten mit einem Wissenschaftler oder einer Wissenschaftlerin von Scientists for Future zu besetzen. Dies lehnte wiederum Kaeser ab.

Er sagte, der Vorschlag sei zwar "gut gemeint". "Aber Experten und Wissenschaftler haben wir schon genug." Für die Lösung der Umweltprobleme brauche es aber "Führungspersönlichkeiten, die zielkonfliktäre Systeme verstehen und auflösen".

Neubauer hätte, so Kaeser, mit dem Aufsichtsratssitz "an der Lösung der von der Fridays-for-Future-Bewegung zu Recht adressierten Klimaproblematik mitgestalten können und dabei auch Einblicke in komplexe unternehmerische Zusammenhänge bekommen".

Zugleich betonte Kaeser, Siemens stehe "mit Frau Neubauer und allen Menschen, die den Klimawandel als Bedrohung sehen, auf einer Seite. Und wir haben diesbezüglich das gleiche Ziel: den Klimawandel zu bekämpfen. Meine Tür steht weiterhin offen."

Wie Siemens sich entscheiden wird, ist bislang offen. Aus der aufwändigen Verteidigungsstrategie, die Kaeser an diesem Wochenende aufgebaut hat, könnte man allerdings die Prognose ableiten, dass Siemens an dem bereits unterschriebenen Vertrag festhalten und zur Begründung auf rechtliche Fragen verweisen wird.

Lehrreich ist die Debatte um das Siemens-Adani-Geschäft in jedem Fall. Sie zeigt, dass es einen Unterschied macht oder zumindest machen kann, wenn Unternehmen ihre Entscheidungen in der Öffentlichkeit vertreten müssen. Dort gehören die Diskussionen um Klimaschutz hin.

Dass Umwelt- und Klimaschützer seit einiger Zeit in der öffentlichen Debatte sehr präsent sind, erweckt den Eindruck, sie hätten Oberwasser und ihre Themen stünden ganz weit oben auf der politischen und gesellschaftlichen Agenda. Der Eindruck ist nicht komplett falsch, aber trügerisch. Nach wie vor fallen viele Entscheidungen fern der Öffentlichkeit. Die Diskussion um Siemens und Adani ist eher die Ausnahme.

Ergänzung um 22:30 Uhr: Der Siemens-Vorstand hat entschieden, an dem Kohleprojekt festzuhalten. "Wir müssen unseren vertraglichen Verpflichtungen nachkommen", schrieb Konzernchef Kaeser auf Twitter.

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