Ansicht des Platzes im Brüsseler Europaviertel mit der Statue von John Cockerill vor dem ehemaligen Bahnhofsgebäude.
Bis zu 30.000 Lobbyisten belagern das EU-Parlament – rund um den Place du Luxembourg in Brüssel wird in Büros, Cafés und Restaurants Politik gemacht. (Foto: J. Logan/​Wikimedia Commons)

Der erste Schritt, um in die Brüsseler Polit-Welt einzutauchen, ist ein Kaffee oder ein gutes belgisches Bier am Place du Luxembourg – dem Platz vor dem Europaparlament in Brüssel.

Der Plux, wie er von Brüsselern genannt wird, ist ein Stammplatz für gestresste Anzugträger, dynamische Frauen im Business-Kostüm und intellektuell wirkende Männer mit tief sitzender Lesebrille, die systematisch die internationale Presse durchgehen. Assistenten von Abgeordneten in gebügelten Hemden plaudern hier mit ehrgeizigen Beratern und wechseln lässig zwischen Englisch, Französisch, Polnisch oder Spanisch hin und her.

Auch Lobbyisten gehen hier ein und aus, laden Politiker zum Essen ein und machen Smalltalk mit deren Mitarbeitern. Nach Schätzungen der Nichtregierungsorganisation Corporate Europe Observatory sind es insgesamt zwischen 15.000 und 30.000 von ihnen, die das Parlament und die EU-Kommission belagern – von Vertretern der Pharmabranche bis zu denen der Autoindustrie. Viele von ihnen sind damit beschäftigt, strengere Gesetze für ihre Branchen zu verhindern.

Doch gerade in der Klimapolitik sind die unabdingbar, wenn es die EU mit einer emissionsarmen Wirtschaft wirklich ernst meint. Um den Pariser Klimavertrag von 2015 einzuhalten, müssten den europäischen Klimazielen für 2030 bald drastische Gesetze folgen – etwa für Kerosin-Steuern auf Flüge, Quoten für E-Autos, für begrenzten Fleischkonsum und einen schnellen Kohleausstieg.

Wenn die Lobbystrategie geleakt wird

Viele Lobbygruppen gehen sehr subtil vor. Nur die wenigsten wollen als Klimaleugner an den Pranger gestellt werden, denn das ist schlecht für ihr Image.

Hintergrund

Über das an die Öffentlichkeit gelangte interne Memo des europäischen Arbeitgeberverbandes Businesseurope hat Klimareporter° im September 2018 ausführlich berichtet: "Wie Lobbyisten höhere Klimaziele verhindern wollen"

Bestes Beispiel für die Verhinderungstaktik hinter den Kulissen ist der europäische Arbeitgeberverband Businesseurope. In einem internen Memo vom vergangenen September erläutert der Verband, wie er die Pläne der EU, höhere Klimaziele zu setzen, "anfechten" will. So solle die Haupt-Argumentationslinie in Bezug auf die EU-Klimaschutzverpflichtungen "eher positiv sein" – solange die EU-Pläne "eine politische Erklärung ohne Auswirkungen" blieben.

Klimakommissar Miguel Arias Cañete hat zuvor angekündigt, das Treibhausgas-Reduktionsziel der EU für 2030 nach oben korrigieren zu wollen. Businesseurope empfiehlt daher, "sich der erneuten Anhebung der Ziele mit den üblichen Argumenten entgegenzustellen". Man solle versuchen, die Angelegenheit herunterzuspielen ("to 'minimise' the issue").

Wenn solche internen Briefings nicht wie hier zufällig an die Öffentlichkeit gelangen, bleiben diese PR-Strategien von fossil-freundlichen Lobbyisten unbemerkt. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Businesseurope sich zu dem Leak auf der Plattform Euractiv nicht äußern will. Auch einen Besuch in Brüssel sagt der Verband kurzerhand ab, als klar wird, dass die Journalistinnen auch über das Memo sprechen wollen.

"Ich mache Werbung für Pestizide"

Normalerweise sprechen Lobbyisten aber erstaunlich gern und offen über ihre Arbeit. Für überzeugende Argumente und eine ausgefeilte Rhetorik werden sie bezahlt.

Einer, der seinen Job wirklich gut macht, ist Simon Schlüter. Schlüter ist Büroleiter des Deutschen Bauernverbandes in Brüssel und vermittelt den Eindruck, dass es in der EU weder ein Nitrat-Problem gibt noch einen Gegensatz von Massentierhaltung und Klimaschutz. Alles gehe seinen Gang und die konventionelle Landwirtschaft könne das Klimaproblem lösen.

Der Großbauer mit rund 35.000 Gänsen in Kleve hatte schon persönlich Ärger mit den "grünen Verbänden": 2014 hat der Naturschutzbund mit einer Verbandsklage gerichtlich verhindert, dass Schlüter noch 20.000 weitere Gänse für die "industrielle Putenmastanlage" anschafft. Grund: Die Anlage steht in einem Naturschutzgebiet am unteren Niederrhein.

Schlüter wirkt jungenhaft, trägt Anzug und Tommy-Hilfiger-Socken und könnte eher aus einer Bankerfamilie als aus einem Bauernclan vom Niederrhein stammen. Sein Büro liegt eine Gehminute vom Europäischen Parlament entfernt. Seite an Seite mit dem Industrieverband Agrar, in dem Hersteller von Düngemitteln und Pestiziden organisiert sind, kämpft Schlüter für die konventionelle Landwirtschaft.

"Ich mache Werbung für Pestizide", witzelt er, als zufällig sein britischer Kollege von Bayer-Monsanto in einem Brüsseler Park an ihm vorbeiläuft. Die beiden begrüßen sich per Handschlag.

Es ist eine ungewöhnliche Verbindung. Seit Jahrzehnten stehen Bauernvertreter in Brüssel Seite an Seite mit der Agrochemie. Beide wollen, dass Landwirte Düngemittel versprühen dürfen, die Lachgas freisetzen. Der Bauernverband möchte günstige Soja importieren dürfen und Fleisch weiterhin als gesundes und unverzichtbares Lebensmittel gelten lassen.

Energiewende als grüne Verschwörung

Rund um den Place de Luxembourg in Brüssel haben noch mehr Lobbyvereine ihren Sitz, die ein klimafreundliches Europa so lange wie möglich aufschieben wollen. Keine 200 Meter vom Deutschen Bauernverband entfernt sitzt Europas Kohlelobbyverband Euracoal. In einem modernisierten Altbau gegenüber einem kleinen Stadtpark mit knorrigen Kastanienbäumen hat Brian Ricketts sein Büro.

Der betagte Brite hat fast sein ganzes Ingenieursleben für die fossile Industrie gearbeitet. Vor Euracoal war er im größten Kohlebergbauunternehmen Großbritanniens, UK Coal, tätig. Nach einem Abstecher zur Internationalen Energieagentur, für die Ricketts über "saubere Kohle" in China schrieb, wurde er Cheflobbyist des Europäischen Stein- und Braunkohleverbandes.

Die Kohle ist in seiner Lebenszeit vom Segen zum Fluch geworden, sie gilt als die klimaschädlichste Energiequelle. "Seit den 1980er Jahren sehen wir eine sinkende Nachfrage nach Kohle", erklärt Ricketts nachdenklich. Immerhin würden aber auch neue Kraftwerke in Osteuropa gebaut, die bis weit nach 2050 laufen könnten, meint der Kohlelobbyist. Ganz so, als gäbe es die Vereinbarung des Weltklimaabkommens nicht, bis 2050 aus allen fossilen Ressourcen auszusteigen.

Die Idee eines schnellen Kohleausstiegs werde von grünen Organisationen und Klimaaktivisten vorangetrieben – für Ricketts ein wirtschaftlicher Irrsinn. Auch er folgt dem Klimaleugner-Narrativ von der "Green Machine" – der Behauptung, Konzerne für erneuerbare Energien hätten den Klimawandel erfunden oder dramatisiert: In einer 2015 veröffentlichten Broschüre greift sein Verband Thinktanks wie die European Climate Foundation an: Einige Superreiche würden mit der Finanzierung von grünen Lobbygruppen die Demokratie gefährden, so die Botschaft des Heftes.

Der vornehme Brite redet sich in Rage. Der Weltklimarat sei allenfalls ein politisches Gremium, das nichts mit Wissenschaft zu tun habe. Klimaschutz? "Das ist alles politisch motiviert". Er beruhigt sich etwas, als sein Sekretär neben ihm nervös mit den Augen blinzelt. Auch bei den Kohlelobbyisten wollen sich die wenigsten als Klimaleugner "outen".

Autolobbyisten im "Weiter so"-Modus

Ebenfalls nur wenige Meter vom Place du Luxembourg entfernt sitzt der Verband der Automobilindustrie VDA. Er lobbyiert in Brüssel seit Jahren für den Erhalt der fossilen Flotten und gegen eine Verkehrswende. 2,5 Millionen Euro gibt der VDA jedes Jahr für etwa zehn in Brüssel ansässige Lobbyisten und 45 Treffen mit Vertretern der EU-Kommission aus.

Der Verband ist geübt darin, strengere Klimaschutzvorgaben für Pkw zu verhindern. Vor zwei Jahren kam ans Licht, dass der damalige VDA-Chef Matthias Wissmann bei der EU-Kommission anrief, um CO2-Grenzwerte für Neuwagen, Sanktionen gegen Hersteller und möglicherweise sogar verbindliche Emissionsziele zu verhindern. Dabei spielt es keine Rolle, ob Wissmann und sein Nachfolger Bernhard Mattes den Klimawandel offen anzweifeln oder nicht – für sie zählt allein, für ihre Branche so lange wie möglich ein "Weiter so" auszuhandeln.

Gerade im rechten und konservativen Lager hat der Verband damit Erfolg: Im EU-Parlament stimmte die Mehrheit der konservativen sowie der rechtsextremen Fraktion gegen schärfere CO2-Grenzwerte für Autos. Auch neun Liberale sagten Nein, darunter zwei der drei FDP-Abgeordneten.

Im Jahr 2019 bleiben uns nur noch elf Jahre bis zur nächsten Klimaziel-Etappe 2030. Wenig Zeit für die große Transformation – vor allem, wenn die Anti-Klimaschutz-Lobby an Macht gewinnt. Die Europawahlen und wichtige Entscheidungen in Deutschland wie Kohleausstieg und Klimaschutzgesetz werden schon in diesem Jahr zeigen, wie stark die Klimaschutz-Bremser wirklich sind.

Die Recherche wurde finanziell durch ein Stipendium der Otto-Brenner-Stiftung und den europäischen Journalismusfonds IJ4EU unterstützt.

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