Ein gläsernes Thermometer steckt im Boden und zeigt 14 Grad Celsius an.
Erwärmt sich der Boden, kann dort eingelagertes CO2 freigesetzt werden. (Bild: Wolodymyr Muljar/​Shutterstock)

Das 1,5‑Grad-Limit der Erderwärmung ist bereits gefährlich nahe. Jüngste Messungen haben ergeben, dass die Welt bereits um 1,3 Grad aufgeheizt wurde und dass im nächsten Jahr wegen des natürlichen El-Niño-Phänomens im Pazifik, das eine zusätzliche Erwärmung bringt, sogar 1,4 Grad erreicht werden könnten.

Schon das zeigt, dass die globale Klimapolitik dringend nachgeschärft werden muss. Eine neue Untersuchung erhöht die Dringlichkeit noch weiter.

Denn danach könnte die globale Erwärmung sogar noch weiterlaufen, wenn die Netto-Null bei den Treibhausgas-Emissionen erreicht wird. Das Klima hat also quasi einen Nachbrenner.

Der Weltklimarat IPCC geht bisher davon aus, dass die weitere Erwärmung stoppt, wenn die Atmosphäre unterm Strich nicht länger mit den kritischen Emissionen – vor allem CO2, Methan und Lachgas – aufgeladen wird. Die neue Studie eines Teams vom Imperial College London und der Universität Exeter stellt das nun infrage. Danach könnte es trotz Netto-Null zu einer erheblichen Erwärmung kommen.

Am Beispiel des Zwei-Grad-Ziels, das laut dem Pariser Klimavertrag möglichst "deutlich" unterschritten werden soll, erläutern sie das so: Ist die mittlere globale Temperatur zum Zeitpunkt des Erreichens der Netto-Null bereits um zwei Grad Celsius gestiegen, besteht ein Risiko, dass die endgültige Temperaturänderung mehr als 2,3 Grad beträgt.

Als Ursache für den möglichen "Nachbrenner" benennt das Forschungsteam Veränderungen in den zahlreichen natürlichen Prozessen und Rückkopplungen in den Ozeanen, an Land und in der Atmosphäre, die die globalen Temperaturen regulieren. Die zusätzlichen Treibhausgasemissionen hätten viele dieser Prozesse beeinflusst und langfristige Veränderungen ausgelöst, die noch Jahrhunderte nach Erreichen des Netto-Null-Punkts anhalten könnten.

Die Gefahr für das Auslösen von Kippelementen steigt

Als Beispiel führt das Team das Abschmelzen des Eises in den Polarregionen an. "Wie wir im Arktischen Ozean und kürzlich in der Antarktis beobachtet haben, trägt eine dünne Schicht schwimmenden Eises dazu bei, die globalen Temperaturen zu senken, indem sie die Sonnenenergie zurück ins All reflektiert", erläuterte Mitautor Martin Siegert von der Universität Exeter. "Sobald das Eis jedoch schmilzt, wird diese Reflexion durch die Absorption der Sonnenenergie ersetzt, was die Temperaturen noch weiter in die Höhe treibt."

Ein weiteres Beispiel ist der Rückgang der CO2-Aufnahme durch die Vegetation und den Boden – Stichwort Fotosynthese. Vermehrte Dürren und Hitzewellen könnten die Wirksamkeit dieser "CO2-Senke" verringern, so das Team. Diese Klimaveränderungen würden ja in der erwärmten Atmosphäre nach Erreichen der Netto-Null nicht aufhören.

Das internationale Team, dem auch Forschende der Universität von Kalifornien in Berkeley, der Universität Melbourne und des Max-Planck-Instituts für Meteorologie in Hamburg angehörten, ermittelte insgesamt 26 derartige Prozesse, von denen mehr als die Hälfte zu einer erheblichen Erwärmung führen könnte.

Aktuelle Klimamodelle zeigen demnach, dass diese und andere Prozesse die erreichte Erwärmung mit einer geschätzten Wahrscheinlichkeit von eins zu sechs um 15 Prozent erhöhen könnten – das wären dann die mehr als 0,3 Grad aus dem Zwei-Grad-Beispiel. Das Team betont allerdings, dass weitere Forschung notwendig ist, um die noch vorhandenen Unsicherheiten in den Voraussagen zu verringern.

Siegert mahnt: "Eine Erwärmung dieses Ausmaßes würde die großen Klimarisiken für Gemeinschaften in der ganzen Welt und insbesondere in den am stärksten gefährdeten Regionen verschlimmern."

Tatsächlich wurde das Zwei-Grad-Limit als absolute Obergrenze in den Paris-Vertrag aufgenommen, um sicherzustellen, dass gefährliche, sich selbst verstärkende Kippelemente des Klimas nicht ausgelöst werden, wie etwa das Austrocknen des Amazonas-Regenwaldes. Klima-Fachleute argumentieren, dass es auf jedes Zehntelgrad weniger Erwärmung ankomme, um die Klimaschäden beherrschbar zu halten.

"Die Hindernisse sind politisch, nicht technologisch"

Die Hauptautorin der Untersuchung, Sofia Palazzo Corner vom Imperial College London, betonte, dass die neuen Kalkulationen Folgen für das "CO2-Budget" haben, das der Welt noch zur Verfügung steht, bevor die Temperaturlimits aus dem Paris-Vertrag erreicht sind. Mögliche weitere Klimarisiken auch in einer "Netto-Null-Welt" machten es noch dringlicher, die Störungen des Klimasystems von vornherein zu begrenzen. Das CO2-Budget sei dann noch kleiner als bisher berechnet.

Wichtige große CO2-Emittenten wie die USA und die EU streben die "Netto-Null" für die Mitte des Jahrhunderts an, China als größter Einzelemittent plant das für 2060.

Laut im vorigen Jahr vorgelegten Analysen des UN-Umweltprogramms Unep in Nairobi und des UN-Klimasekretariats in Bonn bewegt sich die Menschheit mit den langfristigen Klimaplänen der knapp 200 Unterzeichnerstaaten des Paris-Vertrags etwa auf einem 2,5-Grad-Pfad. Würden nur die bereits in Politik umsetzten Pläne weiterverfolgt, wären es sogar 2,8 Grad.

 

Trotz der beunruhigenden Botschaft, dass diese Werte tatsächlich noch höher liegen könnten, sieht der renommierte US-Klimaforscher Michael Mann in der neuen Studie nicht nur Negatives. Die Untersuchung mache auch Hoffnung, sagte der Professor an der Universität von Pennsylvania, der selbst nicht daran beteiligt war.

Die Resultate erinnerten daran, "dass die Hindernisse für Klimamaßnahmen weder physikalisch noch technologisch sind", sagte Mann. "Zum jetzigen Zeitpunkt sind sie politisch. Und die Geschichte lehrt uns, dass politische Hindernisse überwunden werden können."