Kalte und schneereiche Winter passen gefühlt nicht so recht zur Erderwärmung. Müsste es bei steigenden Temperaturen nicht eigentlich milder werden, statt anhaltend zu schneien, mit Frost, Glätte auf den Straßen und Verkehrschaos, wie in den letzten Wochen?
"Der Klimawandel manifestiert sich nicht immer auf die offensichtlichste Weise", sagt der Glaziologe Alun Hubbard von der Universität Tromsø in Norwegen. "Wir müssen uns davor hüten, pauschale, vorschnelle Aussagen über den Klimawandel und seine Auswirkungen zu machen."
Gemeinsam mit weiteren Forschenden hat Hubbard soeben im Fachmagazin Nature Geoscience eine Studie veröffentlicht, die eine schneefreie Zukunft unwahrscheinlich erscheinen lässt. Viel eher dürften starke Schneefälle in Europa künftig sogar zunehmen. "Die Studie zeigt, dass die abrupten Veränderungen, die heute in der Arktis zu beobachten sind, den gesamten Planeten betreffen", sagt Hubbard.
Da die Arktis sich besonders schnell erwärmt, schmilzt das dortige Meereis immer mehr. Der Verlust des arktischen Meereises hat direkten Einfluss auf die winterliche Feuchtigkeit in Europa, konnte das Forschungsteam in der Studie nachweisen.
Denn je mehr Eis verloren geht, desto mehr Wasser kann verdunsten, die Feuchtigkeit in der Atmosphäre steigt. "Das Meereis ist effektiv ein Deckel auf dem Ozean", erläutert die Hauptautorin der Studie, die Geochemikerin Hannah Bailey von der Universität Oulu in Finnland.
"Da das Meereis in der Arktis seit den 1970er Jahren kontinuierlich zurückgeht, haben wir im Winter immer mehr Feuchtigkeit in der Atmosphäre, was sich direkt auf unser Wetter weiter südlich auswirkt und extreme Schneefälle verursacht", so Bailey.
Kältewelle am Winterende 2018 analysiert
Für ihre Studie haben die Forschenden die heftige Kältewelle mit extremen Schneefällen im Februar und März 2018 analysiert. Dafür nutzten sie unter anderem Messungen von atmosphärischen Wasserdampf-Isotopen. Der damalige Kälteeinbruch legte große Teile Europas regelrecht lahm und kostete mindestens 80 Menschen das Leben.
In Deutschland, Skandinavien und den Balkanländern kam es zu heftigen Schneefällen, aber auch in Frankreich, Italien und Spanien. Betroffen waren sogar Städte wie Nizza, Rom und Barcelona, wo es sonst nur selten schneit.
Die Britischen Inseln waren fast komplett weiß. Der Verkehr brach zusammen, Flüge wurden gestrichen, Bahnverbindungen mussten eingestellt werden. Die britische Regierung setzte die Armee ein, um eingeschneite Autofahrer:innen zu befreien. Durch die extrem niedrigen Temperaturen platzten Wasserleitungen.
Für Großbritannien war es das teuerste Wetterereignis seit Jahren, dort genannt "Beast from the East" (Bestie aus dem Osten). Die verursachten Schäden durch blockierte Infrastruktur und Arbeitsausfälle betrugen eine Milliarde Pfund – pro Tag.
Ursache: Meereis-Rückgang nördlich von Europa
Bis zu 88 Prozent des damaligen Neuschnees gingen laut Studie auf den Meereisverlust in der Barentssee zurück. Die Barentssee nördlich von Skandinavien ist Teil des Arktischen Ozeans. Sie gilt als arktischer Hotspot. Seit 1979 ist die Fläche der maximalen Winter-Meereisbedeckung, die im März erreicht wird, um 54 Prozent zurückgegangen – das entspricht rund 570.000 Quadratkilometern.
Durch die "anormale Wärme" in der Barentssee verdunsteten damals etwa 140 Milliarden Tonnen Wasser und versorgten damit kalte Luft mit zusätzlicher Feuchtigkeit. Dies führte direkt zu den starken Schneefällen über Europa.
Grund für die damalige Wetterlage vor drei Jahren war die Aufspaltung des Polarwirbels infolge einer plötzlichen Erwärmung der Stratosphäre über dem Nordpol. Zu einem solchen "Polarwirbel-Split" kam es auch in diesem Jahr Anfang Februar, was zu einem extremen Wintereinbruch in der Nordhälfte Deutschlands führte, mit Schnee, Glatteis, Regen und Sturm (Klimareporter° berichtete).
Durch die weitere Erwärmung der Arktis wird sich der Polarwirbel vermutlich nach Süden verlagern und Ausbrüche von unterdurchschnittlichen Temperaturen über Eurasien und Nordamerika verursachen. Schon 2080 könnte die Barentssee komplett eisfrei sein und wäre dann eine Hauptquelle für winterliche Feuchtigkeit in Kontinentaleuropa, mit weiteren extremen Schneefällen.
"Es mag kontra-intuitiv erscheinen", sagt Forscherin Hannah Bailey, "aber die Natur ist komplex, und was in der Arktis passiert, bleibt nicht in der Arktis."