Blick nach vorn aus einem fahrenden Auto auf die sechsspurige Autobahn.
Autobahn bei Mailand: Die Energiewende im Verkehr gelingt nur, wenn der Mobilitätsaufwand insgesamt sinkt. (Foto: © Raimond Spekking/​Wikimedia Commons, ​CC BY-SA 4.0)

Die Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft. Manche sagen, sie war es. Auf jeden Fall ist die EU eine Wirtschaftsgemeinschaft. Den europäischen Binnenmarkt begründen vier fundamentale Prinzipien: der freie Warenverkehr, der freie Personenverkehr, der freie Dienstleistungsverkehr und der freie Kapitalverkehr.

Verkehr erzeugt Umweltprobleme – unter anderem Lärm, die Zerschneidung von Landschaften und Lebensräumen, Luftverschmutzung und vor allem den Ausstoß von Klimagasen. Letzteres trägt zur Erderhitzung bei. Diese zu begrenzen ist eine politische Priorität der EU.

"Mobilität ist das Lebenselixier des Binnenmarktes", heißt es in dem vorerst letzten, 2011 publizierten Weißbuch zur Verkehrspolitik. Es heißt dort aber auch, das Verkehrssystem sei "nicht nachhaltig". Überraschung? Von wegen – angesichts von immer mehr Flügen, immer mehr Fahrzeugen, immer mehr Gütern auf der Straße und immer größeren und schwereren Autos.

Die Vollendung des Binnenmarktes war mit der Hoffnung auf Stabilität und zusätzliches Wachstum verbunden, die möglichen Gefahren für die natürliche Umwelt waren kein Thema.

Sie wurden es erst, nachdem eine auf Initiative der Umweltminister von der EU-Kommission einberufene Spezialeinheit einen fast 300-seitigen Bericht verfasst hatte ("1992: The Environmental Dimension"). Darin heißt es: "Die Taskforce ist sehr besorgt über die Auswirkungen auf den Verkehrssektor, die sie als die bedeutendsten Umweltwirkungen des Binnenmarktes betrachtet."

Kapitulation oder Mobilitätswende

Der 1993 in Kraft getretene Vertrag von Maastricht beinhaltet zwar das Konzept des "nachhaltigen" und "umweltverträglichen Wachstums", doch blieb die Wirkung des gedruckten Wortes begrenzt. Die vom Verkehr verursachten Probleme haben die Europäer sehenden Auges ereilt.

Zur Person

Der Ökonom und Journalist Fritz Vorholz war 27 Jahre Redakteur der Wochenzeitung "Die Zeit". Seit 2016 ist er beim Thinktank Agora Verkehrswende tätig. Der Beitrag gibt ausschließlich seine persönliche Ansicht wieder.

Dokumentiert wird der Schaden von der Europäischen Umweltagentur EEA. Danach sind die Emissionen von Luftschadstoffen durch den Verkehr im vergangenen Vierteljahrhundert zwar deutlich, wenn auch weniger als erhofft, gesunken.

Aber: Selbst Europas dünn besiedelte Gebiete stehen unter großem Fragmentierungsdruck durch Verkehrsinfrastruktur, mehr als 70 Millionen Europäer sind des Nachts hohen, vom Straßenverkehr verursachten Geräuschpegeln ausgesetzt, und während Industrie und Haushalte ihre CO2-Emissionen gesenkt haben, sind die des Transports seit 1992 um 23 Prozent gestiegen.

Hauptverursacher sind Pkw, gefolgt von schweren Lastwagen und dem internationalen Flugverkehr. Einer aktuellen Untersuchung zufolge summieren sich die externen Kosten des Verkehrs auf jährlich 987 Milliarden Euro – fast sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts der EU.

Jetzt steht die Politik vor der Wahl: Kapitulation oder die Herausforderung des Klimaschutzes stemmen. Letzteres erforderte zweierlei: eine Mobilitätswende und eine Energiewende im Verkehr.

Weniger Verkehr nur mit mehr Politik

Energiewende heißt, fossile Kraftstoffe als Antriebsenergie nach und nach zu verbannen. Die EU hat vor Kurzem neue CO2-Flottengrenzwerte für das Jahr 2030 beschlossen, ein erster Schritt in diese Richtung, dem rasch weitere folgen müssten.

Allerdings: Heute hängt der Verkehrssektor nicht nur fast vollständig am Öltropf, obendrein ist er Europas größter Energieverbraucher. Was wäre ein klimaverträglicher Ersatz?

Bioenergie jedenfalls nicht, soll ein Angriff auf den Artenschutz vermieden werden. Nach Lage der Dinge können Benzin, Diesel und Kerosin tatsächlich nur durch regenerativ erzeugten Strom vor allem aus Solar- und Windkraftanlagen ersetzt werden. Das wiederum ist nicht nur eine enorme technische, sondern auch eine soziale Herausforderung.

Sie wäre weniger groß, gelänge es, Mobilität mit weniger Verkehr und deutlich geringerem Energieaufwand zu ermöglichen. Die Effizienzpotenziale dafür sind enorm. Technologische Entwicklungen ermöglichen multimodales Verkehrsverhalten und die Erschließung bislang nicht gehobener Potenziale zur Vermeidung und Verlagerung von Verkehr.

Die Debatte

Im Mai wählt Europa sein Parlament. Wir fragen Aktivisten, Politiker und Wissenschaftler: Was erwarten Sie von der Europäischen Union in Bezug auf Klima und Umwelt?

Debatte: Nachhaltiges Europa

In einer Stadt wie Lissabon ließe sich, theoretisch, allein durch geteiltes Fahren mehr als ein Drittel der bisher benötigten Energie einsparen, haben Studien ergeben; billiger würde Mobilität obendrein.

Um Alltagsroutinen von Millionen Menschen zu ändern, ist allerdings politische Rahmensetzung notwendig. Bleibt sie aus, werden Sharing und fahrerlose Fahrzeuge die Probleme nicht verkleinern, sondern vergrößern.

Die Frage ist, ob es gelingt, Infrastrukturinvestitionen ebenso wie verhaltenslenkende Signale an die Verkehrsteilnehmer am Ziel der Emissionsminderung auszurichten, ohne den vielen von Armut und sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen zusätzlich zuzusetzen. Über Hebel dafür verfügen europäische Institutionen, nationale Regierungen und Parlamente, aber auch Städte. Stark genug, den Wandel sozialverträglich zu gestalten, sind sie nur gemeinsam.

 

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