Straße in Berlin: Autos beanspruchen den mit Abstand größten Teil der öffentlichen Verkehrsfläche. (Bild: Valentin Baciu/​Pixabay)
 

Die Berliner Verkehrssenatorin Manja Schreiner (CDU) hat am Mittwochnachmittag für sechs Radverkehrsprojekte an Hauptstraßen grünes Licht gegeben, fünf weitere sollen jedoch vorerst nicht realisiert werden. So sollen drei neue Radwege im Berliner Innenstadtbezirk Friedrichshain-Kreuzberg entstehen, andere Radprojekte in den Außenbezirken werden allerdings gestoppt.

Etwa 10.000 Radfahrer:innen demonstrierten am letzten Sonntag auf einer Tour durch Berlin gegen die Verkehrspolitik des Senats. Der Fahrradverein ADFC hatte gemeinsam mit Fridays for Future und der Verkehrsgruppe Changing Cities kurzfristig zu dem Protest aufgerufen.

Unter dem Motto "Radwegestopp? Nicht mit uns" radelten die Demonstrant:innen durch mehrere betroffene Stadtteile und Straßen und dann zum "Roten Rathaus", wo seit April eine Koalition aus CDU und SPD regiert.

Eine Station war die Siegfriedstraße im östlichen Bezirk Lichtenberg, für die nun erstmal klar ist, dass sie nicht verändert wird. Wer hier Rad fahren will, wird zwischen parkenden und fahrenden Autos eingequetscht und droht in die Straßenbahnschienen zu geraten, kritisiert Karl Grünberg vom ADFC.

Geplant war in der Straße seit Jahren ein geschützter Radweg. Da dieser allerdings Parkplätze kosten würde, hat Verkehrssenatorin Schreiner nun die Notbremse gezogen.

Dabei wäre gerade hier, wie an vielen anderen Straßen in Berlin, ein neuer Radweg dringend nötig, findet nicht nur Karl Grünberg. Schließlich führt die Siegfriedstraße direkt zum Bahnhof Lichtenberg, wo S-Bahn, U-Bahn und Regionalzüge halten – eigentlich ideal für die verkehrs- und klimapolitisch wünschenswerte Kombination aus Rad und Bahn.

Wie viele Berliner Radwege-Projekte insgesamt von dem Planungsstopp betroffen sind, ist unklar. Die Senatsverwaltung für Verkehr teilte auf die Nachfrage von Klimareporter° mit, dazu sei noch keine verlässliche Aussage möglich. Da die Prüfung erst begonnen habe, wäre jede Antwort "rein spekulativ".

Mittel für Radwege drohen halbiert zu werden

Angefangen hatte alles vor zwei Wochen mit einer E‑Mail, über die der Berliner Tagesspiegel berichtete. Darin forderte die Senatsverwaltung die Bezirke auf, alle Radwege-Projekte vorerst zu stoppen. In der Mail stand auch, dass alle Projekte ausgesetzt werden, die mindestens einen Autostellplatz oder Autofahrstreifen gefährden.

Genehmigte Radwege

  • Michaelbrücke (Friedrichshain-Kreuzberg)
  • Scharnweberstraße (Friedrichshain-Kreuzberg)
  • Schlesische Straße, Köpenicker Straße, Bethaniendamm, Obere Freiarchenbrücke (Friedrichshain-Kreuzberg)
  • Scheffelstraße, Möllendorfstraße, S-Bahnbrücke (Lichtenberg)
  • Gülzower-, Gutenberg-, Hellersdorfer Straße (Marzahn-Hellersdorf)
  • Opernroute (Charlottenburg-Wilmersdorf)

Gestoppte Radwege

  • Sonnenallee, Krebsgang Bezirksgrenze (Neukölln)
  • Siegfriedstraße – Bornitzstraße, Rüdigerstraße (Lichtenberg)
  • Stubenrauchstraße (Neukölln)
  • Berliner Straße, Grunewaldstraße, Blissestraße, Bamberger Straße (Charlottenburg-Wilmersdorf)
  • Hauptstraße, Dominicusstraße, Kleistpark (Tempelhof-Schöneberg)

Die Welle der Entrüstung in Kommunalpolitik, Opposition und Umweltgruppen ließ nicht lange auf sich warten. Schon vor der großen Fahrraddemo gab es kleinere Kundgebungen mit und ohne Rad, etwa am 16. Juni vor der Senatsverwaltung.

Selbst der Koalitionspartner SPD reagierte mit Unverständnis auf den Vorstoß der Verkehrssenatorin. Die Berliner SPD-Abgeordnete Linda Vierecke twitterte: "Jetzt Radwegprojekte zu stoppen, macht keinen Sinn und steht so auch nicht im Koalitionsvertrag."

Der Fahrradaktivist und CDU-Politiker Heinrich Strößenreuther glaubt vor allem an ein Kommunikationsproblem. "Einen generellen oder dauerhaften Planungstopp kann ich den Aussagen der Senatsverwaltung nicht entnehmen – hier gab es viele Missverständnisse", sagt der Mitgründer der Klima-Union. Außerdem müsse man einer neuen Senatorin zugestehen, die Projekte der Vorgängerregierung zu prüfen und anders zu priorisieren.

Das Argument kann Karl Grünberg vom ADFC nicht nachvollziehen. Die betroffenen Radwege seien jahrelang geplant worden, auch unter Beteiligung von Bürgerinitiativen, bezirklichen Verkehrsausschüssen und Stadtplaner:innen.

"Machbarkeitsuntersuchungen wurden erstellt, Planfeststellungsverfahren sind gemacht worden. Dann wurden Fördergelder vom Bund beantragt", erklärt er. Jetzt müssten diese Radwege nur noch gebaut werden. Sonst könnten auch bereits bewilligte Fördergelder in Millionenhöhe wieder verfallen.

Ein Bericht des Senders RBB über senatsinterne Unterlagen erhärtete kürzlich den Verdacht, dass der neue Senat eine verkehrspolitische Rückwärtsrolle macht. Demnach drohen für das nächste und übernächste Jahr Kürzungen zwischen 40 und 60 Prozent der finanziellen Mittel für Bau und Sanierung von Radwegen.

In einem Interview mit der Tageszeitung Taz sagte Senatorin Schreiner, sie wolle die Außenbezirke in den Fokus rücken, da die Innenstadt bereits sehr gut mit Radwegen ausgestattet sei.

Autos haben 15-mal so viel Platz wie Fahrräder

Damit das Fahrrad eine Rolle bei der Klima- und Verkehrswende spielen kann, müssten vor allem Radwege auf Pendelstrecken von den Randbezirken in die Innenstadt ausgebaut werden, stimmt Verkehrswissenschaftler Oliver Schwedes von der TU Berlin zu. Allerdings stünden auch diese bei der neuen Senatspolitik infrage, sofern sie Parkplätze gefährden.

Radfahrerin in Berlin
Radfahren in Berlin ist gefährlich. (Bild: Mihai Surdu/​PIxabay)

Dass die Innenstadt bereits eine attraktive Radinfrastruktur habe, dem müsse er allerdings deutlich widersprechen, sagt Schwedes. "Rad- und Fußverkehr wurden völlig vernachlässigt. Das drückt sich in einer einseitigen Aufteilung des öffentlichen Straßenraums zugunsten des Pkw aus."

In Berlin wird das Fahrrad immer beliebter. 2018 lag der Anteil des Radverkehrs am gesamten Verkehr bei 18 Prozent. Vom öffentlichen Straßenraum fallen der Radinfrastruktur allerdings nur vier Prozent zu.

Umgekehrt sieht es beim Autoverkehr aus. Etwa 26 Prozent aller Berliner:innen steigen für ihre täglichen Wege in den Pkw. Die Autoinfrastruktur beansprucht aber fast 60 Prozent der gesamten Verkehrsfläche.

"Die verkehrspolitische Herausforderung besteht also in der Neuaufteilung des öffentlichen Straßenraums, der ja allen Bürger:innen gehört", sagt Schwedes.

Ohne den Autos Flächen zu entziehen, lässt sich die Radinfrastruktur also kaum ausbauen. Die kommenden Wochen werden zeigen, wie die neue Verkehrssenatorin mit dieser einfachen Wahrheit umgehen wird.

 

Anzeige