Es ist ein Weg am Abgrund. Ein Blick nach rechts, und der Boden ist etwa hundert Meter tiefer als die Bundesstraße. Aus der Ferne wirken die Ränder der Grube fast wie Felswände, so kantig und glatt ist der dunkle Sand. Der Tagebau nimmt das ganze Blickfeld ein, es ist ein Ort voller Leere, aus dem einzig und allein ein schwarz-gelbes Förderband heraussticht.
Bahnhof Neukieritzsch. Bis hierhin fährt die aus Leipzig kommende S-Bahn. Danach folgt ein sieben Kilometer langer Weg, den die Aktivisten per Bus oder Fahrrad zurücklegten, um zum Klimacamp in Pödelwitz zu gelangen – der Ort, der dem Kohleabbau zum Opfer fallen soll.
Doch genau dieses 27-Einwohner-Dorf hat das Klimacamp eingeladen, damit es sich für sein Bestehen einsetzt. Gleichzeitig ist das Klimacamp ein Ort, der für weltweite Klimagerechtigkeit kämpft. In Pödelwitz treffen Utopie und Realität aufeinander.
Klimacamp als Ort der Bildung
Julian Bleh zeigt auf dem Hauptplatz auf die Essensschlange. "Wir brauchen noch 20 Leute, die sich für Schichten für morgen eintragen." Gemeint ist Hilfe in der Küche. Wer am Camp teilnehmen wollte, musste zwischen drei und fünf Euro pro Tag zahlen – je nach Einkommen. Am Geld sollte der Aufenthalt nicht scheitern. So muss jeder auch nur eine Spende geben, wenn er Crêpes oder selbstgebackene Pizza essen möchte.
Im Laufe des Klimacamps sind über tausend Menschen zusammengekommen. Es ist ein nahezu hierarchieloser Ort, aber kein Festival und auch keine Hippieveranstaltung, wie Bleh klarstellt: "Es ist ein Politcamp."
Das zeigen die rund 100 Workshops und Podiumsdiskussionen. In einem Veranstaltungszelt informiert die Rechtsextremismus-Expertin Andrea Röpke über die "Völkische Landnahme". Junge Rechtsradikale und Rechtsextreme siedelten sich deutschlandweit in ländlichen Regionen an und arbeiteten unauffällig gegen die liberale Gesellschaft der Großstadt, so die Politologin.
"Die Aussteiger von rechts", wie Röpke sie nennt, betrieben ökologische Landwirtschaft und wollten Umweltschutz und Volksschutz verbinden, um eine angebliche "Überfremdung" zu verhindern. Sie würden sich bei Bürgerinitiativen gegen Windräder einbringen sowie AfD und NPD unterstützen.
Auch Cleo aus Freiburg lauscht der Referentin. Die Studentin schätzt das Camp wegen der Möglichkeiten zur Vernetzung, aber auch für die vielen Themen, die weit über die Auseinandersetzung mit dem Braunkohletagebau hinausgehen. Denn das Klimacamp will Konzepte für eine solidarische, ökologische und global gerechte Gesellschaft entwickeln.
Leben im "klimaungerechten" System
Klimagerechtigkeit, so lautet der Begriff, der das Bestreben der Aktivisten unter einen Nenner bringt. Gemeint ist zunächst einmal das Prinzip, nach dem jeder Mensch das gleiche Recht hat, die Atmosphäre zu nutzen. Allerdings ist das eingeräumte Nutzungsrecht limitiert: Insgesamt muss sich die Erderwärmung nämlich mindestens auf zwei Grad, besser 1,5 Grad beschränken.
Klimagerechtigkeit geht aber noch weiter, indem sie nach den Verursachern des Klimawandels sucht und die Folgen ausgleichen will. "Ich denke, dass wir in einem sehr klimaungerechten System leben", fasst Nina Beck, Pressesprecherin im Klimacamp, zusammen. "Die Menschen, die am wenigsten zur Klimakrise beigetragen haben, spüren den Klimawandel am stärksten und verlieren ihre Lebensgrundlage."
Beck meint damit die Länder des globalen Südens, die am meisten unter dem hohen Ausstoß von Treibhausgasen in den Industrieländern leiden. Deswegen heißt ein Themenschwerpunkt des Camps "Koloniale Kontinuitäten".
Auf dem Hauptplatz zeigt ein Künstler braunkohlekritische Werke. (Foto: Annika Keilen)
Das Klimacamp findet nach 2018 zum zweiten Mal in Pödelwitz statt – und es könnte an diesem Ort das letzte Mal sein. Denn während sich die Aktivisten dafür einsetzen, die Welt in Zukunft ein Stück weit gerechter zu machen, hört das Dorf Pödelwitz schon das dumpfe Surren der Braunkohlebagger.
Nach den Plänen der Braunkohlegesellschaft Mibrag soll Pödelwitz dem Tagebau Vereinigtes Schleenhain weichen. Dann würde nur noch ein Wikipedia-Eintrag an das Dorf erinnern, so wie es schon beim ehemaligen Nachbarort Großhermsdorf der Fall ist.
Formale Grundlage für die Abbaggerung von Pödelwitz sind ein im Jahr 2012 geschlossener Grundlagen- sowie ein Narbarschaftsvertrag zwischen dem Tagebauunternehmen Mibrag und der Stadt Groitzsch, zu der auch Pödelwitz gehört.
Nach Ansicht des Unternehmens sind mit diesem Vertrag die Voraussetzungen für eine freiwillige Umsiedlung geschaffen worden – schließlich hätten 90 Prozent der 130 Anwohner damals dem Vertrag zugestimmt. Allerdings braucht es für die tatsächliche bergbauliche Inanspruchnahme des Ortes einen Planfeststellungsbeschluss. Und den gibt es bisher nicht.
Acht Jahre später leben noch 27 Menschen in Pödelwitz. Offensichtlich wollen nicht alle Einwohner ihre Heimat verlassen. Einer, der noch Widerstand leistet, ist Jens Hauser. Er hat das Klimacamp mit eingeladen und ist Sprecher der Initiative "Pro Pödelwitz". Wenn er auf den Braunkohletagebau blickt, denkt er vor allem an ein auslaufendes Geschäftsmodell. Hauser glaubt, dass der Kohleausstieg noch viel eher als 2038 kommen muss, wie es die Kohlekommission vereinbart hat.
Für die Kohleunternehmen und damit auch für die Mibrag sei das Geschäft wirtschaftlich nicht mehr rentabel, erklärt der Pödelwitzer. Das benachbarte Kraftwerk Lippendorf laufe schon jetzt nur noch mit halber Kraft. "Das heißt, die Fixkosten für den Tagebau müssen durch einen Kraftwerksblock erarbeitet werden, obwohl er eigentlich für zwei Blöcke ausgelegt ist."
Das Kohlegeschäft schadet nicht nur Pödelwitz
Auch als Landwirt spürt Hauser die Folgen des Braunkohleabbaus: "Der Bodenwert nach dem Bergbau ist mindestens halbiert, außerdem ist das ganze Grundwassersystem nachhaltig geschädigt." Für ihn erschließt sich nicht, warum Bundesländer weiterhin Genehmigungen für Abbaufelder erteilen, obwohl sie Milliarden für den Kohleausstieg erhalten sollen.
"Politiker haben einen Amtseid abgelegt, Schaden von der Bevölkerung abzuhalten. Was sie aber momentan tun, dient nicht dazu, Schaden abzuhalten", meint Hauser. Er fordert einen konsequenten Kohleausstieg. Schließlich habe Deutschland auch eine Verantwortung in der Welt. Besonders in diesem Punkt ist er sich mit den Aktivisten einig.
Während die einen für Klimagerechtigkeit kämpfen, bangen allerdings andere um ihre Arbeitsplätze. Trotzdem bleiben beide Seiten im Gespräch. "Wir wollen auch, dass die Leute hier eine Arbeit finden," sagt Camp-Mitorganisator Julian Bleh. So gab es während des Klimacamps die "Degrowth-Sommerschule", bei der die Aktivisten nach "konkreten Alternativen" für Dörfer der Zukunft ohne Tagebau suchen.
Doch was gibt es für Alternativen in Pödelwitz? Für Matthias Lindig, Betriebsratsmitglied im Tagebau Schleenhain, ist es ein klarer Fahrplan für den Kohleausstieg. Zusammen mit der Bergbaugewerkschaft IG BCE bietet er in einem offenen Infozelt den Klimaaktivisten das Gespräch an.
Im Optimalfall soll am Ende eine klimafreundliche Industrieanlage, die weiterhin Arbeitsplätze sichert, herumkommen, sagt Lindig. "Machen wir uns nichts vor, in Zukunft wird dort, wo eine große Industrieanlage stand, wieder eine stehen. Aber das wird dann hoffentlich ein Speichermedium sein, das CO2-frei arbeitet."
Man würde auch gern mit den Aktivisten zusammen auf die Straße gehen, doch natürlich nicht, wenn diese Braunkohlebagger besetzen, so der Betriebsrat. Damit spielt er auf zehn Teilnehmer des Klimacamps an, die einen Bagger besetzt hatten. Eine Aktivistin sitzt noch immer in Untersuchungshaft. Das Klimacamp schreibt sich die Aktion zwar nicht auf die Fahne, zeigt sich aber mit den zehn Besetzern solidarisch.
Gelebte Anarchie?
An Aktionen wie dieser wird deutlich, dass sich Kohleleute und Klimaaktivisten eben doch nicht so einig sind, wie Lindig es gerne hätte. Nicht nur der geplante Kohleausstieg kommt für die Umweltschützer viel zu spät, das ganze Gesellschaftssystem müsste geändert werden.
"Im Kapitalismus wird es keine Klimagerechtigkeit geben", sagt Jonathan Eibisch, der Workshops über Anarchie als gesellschaftliche Ordnung und Ethik geleitet hat. Gemeint ist damit, dass alle Menschen in einem System gleichberechtigt sind, also zum Beispiel in einem Betrieb oder Büro ohne Chef arbeiten.
Im Camp gibt es Eibisch zufolge schon viele Elemente dieser hierarchielosen Ordnung. So könnten sich viele Menschen einbringen und gäben durch das sogenannte "Awareness"-Konzept aufeinander acht.
Sein Ideal einer Gesellschaft lässt sich jedoch gar nicht so sehr unter den Begriff anarchistisch fassen, sondern eher damit beschreiben, "dass alle Menschen das bekommen, was sie brauchen", also zum Beispiel Wohnraum. Die Camp-Realität auf die ganze Gesellschaft übertragen wolle er aber allein schon deshalb nicht, weil er in einer "idealen Gesellschaft" nicht vor allem campen wolle.
Für Teilnehmerin Carmen aus Halle gibt es zwei Camp-Realitäten. Zum einen gebe es realistische Ziele wie den Kohleausstieg, gleichzeitig aber auch noch eine Utopie im Camp. Sie zählt dazu das Bestreben, von der Wachstumsgesellschaft wegzukommen. "Aber das ist ein Ziel, über das man viel reden kann. Und dafür ist ein Camp wunderbar!", fasst Carmen zusammen. Und so verließen die Klimaaktivisten ihre Utopie mit einer abschließenden Tanzdemo vor dem Braunkohlekraftwerk Lippendorf.
Dass das Klimacamp durchaus linkspolitisch anzusiedeln ist, findet auch Florian Teller, ebenfalls Pressesprecher im Camp. Deswegen sei ein weiterer Schwerpunkt die Antifa-Arbeit. Die Klimagerechtigkeitsbewegung werde immer als bunt, jung und weiblich gesehen, während die Antifa immer "als Black Bloc und männerlastig wahrgenommen wird", so Teller.
"Hinsichtlich der Landtagswahlen haben wir geguckt, wie beide Bewegungen zusammenarbeiten können", erklärt er. Mit dem Klimacamp könne man zwar jetzt nicht mehr das Wahlergebnis beeinflussen, aber um rechte Bewegungen zurückzudrängen, müssten beiderseitige Vorurteile abgebaut werden.
Die Landtagswahlen in Sachsen und auch in Brandenburg finden am 1. September statt. Erwartet wird ein großer Zuspruch für die rechtspopulistische AfD. Auch der Kohleausstieg wird Thema sein.
Trotz der Gegenkräfte glaubt der Pödelwitzer Jens Hausner, dass der Kohleausstieg bald kommen wird. Schließlich beschließe das immer noch die Bundesregierung und nicht eine Landesregierung. Auch dass es eine rechte Regierung geben wird, glaubt er nicht: "Ich denke, dass die demokratischen Kräfte in Sachsen so stark sein werden, dass wir das Problem AfD verhindern können."
Der Beitrag wurde am 14. August aktualisiert.