"Timing ist alles", sagt Johannes Wesemann. Der Unternehmer hat mit dem Anwalt Wolfgang Proksch sowie drei weiteren Beteiligten die Non-Profit-Organisation All Rise in Österreich gegründet – und diese hat heute Anzeige gegen Jair Bolsonaro vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag erstattet. Sie werfen dem brasilianischen Präsidenten wegen seiner Amazonas-Politik "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" vor.
Die Klageschrift, die den Titel "Der Planet gegen Bolsonaro" trägt und mit einer Kampagne begleitet wird, erreicht den Gerichtshof am Kolumbus-Tag. Der umstrittene Feiertag soll an das Betreten des amerikanischen Kontinents durch den europäischen Seefahrer Christoph Kolumbus erinnern. Zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen fordern eine Abschaffung oder Umbenennung des Tages, der die indigene Bevölkerung in erster Linie an den Beginn einer Epoche aggressiver Eroberung und Ausbeutung erinnert.
In Brasilien, dem größten Land Südamerikas, hat die Ausbeutung unter dem rechtsextremen Präsidenten Bolsonaro nicht mehr für möglich gehaltene Ausmaße angenommen. Das belegt die 300 Seiten starke Klageschrift von All Rise, die mit wissenschaftlich fundierten Daten die koordinierte Zerstörung des Amazonas-Regenwaldes unter der Bolsonaro-Regierung belegt.
So habe Bolsonaro Gesetze und staatliche Kontrollen systematisch geschwächt oder gleich ganz abgeschafft und sei gezielt gegen Umweltaktivist:innen vorgegangen. Seine Regierung fördere das Vordringen von Holzfällern, Brandrodern und Viehzüchtern in den Regenwald. Zudem habe Bolsonaro die Budgets der Indigenenbehörde Funai und der Umweltbehörde Ibama gekürzt und Spitzenpositionen dort mit Lobbyisten aus der Agrarwirtschaft besetzt.
Klimawissenschaftliche Abschätzung der Entwaldungsfolgen
Das hat weitreichende Folgen. Die Waldzerstörung hat in den vergangenen Jahren wieder massiv zugenommen. Laut dem brasilianischen Weltraumforschungsinstitut INPE lag die Abholzungsrate 2019 um 34 Prozent über der im Vorjahr und war damit die höchste seit mehr als einem Jahrzehnt. 2020 erhöhte sich die Rate sogar noch weiter – auf 44 Prozent gegenüber 2018.
Insgesamt wurde 2018/19 und 2019/20 eine Abholzung von rund 10.000 beziehungsweise 11.000 Quadratkilometern im brasilianischen Amazonasgebiet registriert. Damit ist die entwaldete Fläche um fast 4.000 Quadratkilometer größer als der Durchschnitt des Jahrzehnts davor, als die Entwaldungsraten einigermaßen stabil waren. Auch wegen dieser Zahlen führen Umweltschützer:innen die Zunahme der Entwaldung auf Jair Bolsonaro und seine Regierung zurück.
Für die Klageschrift haben Wissenschaftler:innen die Klimafolgen der Entwaldung abgeschätzt. Demnach entsprechen die jährlichen Treibhausgasemissionen, die der Politik der Bolsonaro-Regierung zuzurechnen sind, etwa einem Prozent der weltweiten Emissionen. Das ist ungefähr so viel wie die Emissionen, die Großbritannien jedes Jahr verursacht.
Würde die Entwaldung auch 2021 und 2022 so weitergehen wie bis, können Bolsonaro 1,7 Milliarden Tonnen CO2 durch die gestiegene Abholzung im Amazonasgebiet zugeschrieben werden, heißt es in dem Kurzreport, den Klimaforscher:innen wie Rupert Stuart-Smith und Friederike Otto für die Klage erarbeitet haben. Danach gefährdet die Bolsonaro-Regierung die Einhaltung des international beschlossenen 1,5-Grad-Ziels.
Die Klimawissenschaftler:innen schätzen, dass die Emissionen, die Bolsonaro zuzuschreiben sind, in den nächsten 80 Jahren weltweit mehr als 180.000 hitzebedingte Todesfälle verursachen können. Zudem erhöhen die Abholzung und der dadurch verursachte CO2-Ausstoß die Gefahr abrupter Veränderungen im Amazonasregenwald.
Dies wird als "Amazonas-Kipppunkt" bezeichnet. Schon länger warnen Fachleute, dass große Teile des bisherigen Regenwaldes sich in eine offene Savanne mit Gräsern und wenigen Bäumen verwandeln könnten. Seine prägende Funktion als gigantische "Wettermaschine" würde der Amazonas dann verlieren. Schon heute ist diese Funktion beeinträchtigt, haben wissenschaftliche Studien gezeigt.
"Im besten Fall ein Vorbild für künftige Strafverfolgung"
"Jair Bolsonaro treibt die Zerstörung des Amazonas sehenden Auges und in voller Kenntnis seiner Folgen voran", meint Wesemann. "Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat die klare Pflicht, Umweltverbrechen von solch globaler Tragweite zu untersuchen." Mit der Abholzung im großen Stil werde direkt und indirekt Gewalt auf die Zivilbevölkerung ausübt, die im Wald lebt oder ihn verteidigt.
Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, denen diese Menschen ausgesetzt sind, lauten etwa "vorsätzliche Tötung", "Vertreibung" oder "Verfolgung" und sind in Artikel 7 des Römischen Statuts aufgelistet, das die Grundlage für den Internationalen Strafgerichtshof bildet.
Zudem argumentiert All Rise mit Artikel 25 des Statuts. Demnach ist eine Person, die ein Verbrechen begeht, das der Gerichtsbarkeit des Internationalen Gerichtshofs unterliegt, dafür individuell strafrechtlich verantwortlich.
Wesemann rechnet sich gute Chancen aus. Seit Juni habe der Internationale Strafgerichtshof einen neuen Chefankläger und auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wonach Teile des deutschen Klimaschutzgesetzes verfassungswidrig waren, sei für die Frage relevant.
"Wir schaffen eine globale Relevanz und im besten Fall ein Vorbild für künftige Strafverfolgung in ähnlich gelagerten Fällen", so Wesemann, "weil wir gezeigt haben, welche Auswirkungen das Handeln von Bolsonaro auf die Umwelt, das Klima und die menschliche Gesundheit auf der ganzen Welt haben." Der Unternehmer hofft einen Präzedenzfall mit der Beschwerde zu schaffen.
Nicht die erste Anzeige
Es gibt bereits mehrere Anzeigen gegen Jair Bolsonaro. So hatten im Februar dieses Jahres Repräsentanten zweier indigener Völker in Brasilien beim Internationalen Strafgerichtshof eine Beschwerde gegen Bolsonaro eingereicht. Er verfolge die Indigenen im Amazonas-Gebiet, zerstöre ihre Territorien und verletze ihre fundamentalen Rechte, heißt es in der Anzeige. Hier wird vor allem mit dem Schutz der Heimat der Bürger:innen Brasiliens und der indigenen Gruppen argumentiert.
Nach Auskunft von All Rise wurden diese Anzeigen bei der jetzt eingereichten Beschwerde mitgedacht. Die Anzeige von All Rise sei komplementär zu den bestehenden und belege erstmals mit einem umfassenden wissenschaftlichen Bericht die Auswirkungen der Amazonas-Politik nicht nur auf lokaler und regionaler, sondern auch auf globaler Ebene, sagte eine Sprecherin gegenüber Klimareporter°.
Das Gericht in Den Haag muss nun zunächst entscheiden, ob eine Voruntersuchung eingeleitet wird. In diesem Fall würden sämtliche Anzeigen zu einem Fall zusammengefasst werden.
Redaktioneller Hinweis: Klimaforscherin Friederike Otto gehört dem Herausgeberrat von Klimareporter° an.