Im Mai 2023 lehnte die brasilianische Umweltbehörde Ibama einen Antrag des staatlichen Ölkonzerns Petrobras ab, vor der Küste des nördlichen Bundesstaates Amapá nach Öl zu bohren. Das Gebiet liegt im Mündungsbecken des Amazonas (Bacia da Foz do Amazonas). Die Ölbohrung soll 500 Kilometer nördlich der Amazonas-Mündung im Atlantik stattfinden.

In dem Lizenzantrag fehle es an Schutzmaßnahmen für die Fauna im Falle eines möglichen Ölaustritts, begründete die Ibama ihre Ablehnung. Zudem seien die Auswirkungen auf drei indigene Gebiete an der Nordküste von Amapá nicht berücksichtigt worden.

Die Entscheidung hat zu Spannungen innerhalb der Regierung und unter Abgeordneten aus dem Amazonasgebiet geführt. Petrobras hat einen neuen Antrag eingereicht, der derzeit geprüft wird.

Brasiliens Mitte-Links-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva erklärte zum Zeitpunkt der Entscheidung der Ibama: "Wenn man den Reichtum findet, den es dort geben soll, dann ist es Sache des Staates zu entscheiden, ob man ihn ausbeutet oder nicht ... Man kann forschen, entdecken, dass es dort viel (Öl) gibt, und dann wird man darüber diskutieren, wie man es ausbeutet."

Auf einem Investitionsgipfel im vergangenen Juni fügte Lula hinzu: "Es ist wichtig zu bedenken, dass wir, wenn wir mit der Erkundung der sogenannten Äquatorialmarge beginnen, einen außerordentlichen Sprung machen werden. Wir wollen alles legal machen, die Umwelt respektieren, alles respektieren, aber wir werden keine Gelegenheit zum Wachstum wegwerfen."

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Bernardo Jurema

ist Klimaforscher am Forschungs­institut für Nach­haltigkeit RIFS in Potsdam (früher IASS). Er forscht zu US-Außen­politik, kritischen Sicherheits­studien, trans­disziplinärer Wissen­schaft und der Über­schneidung von Geo- und Öko­politik. Jurema studierte in Pernambuco (Brasilien) und London, promovierte in Politik­wissen­schaft in Berlin und arbeitete bei inter­nationalen Organisationen und Think­tanks in Europa und Latein­amerika.

Die Äquatorialmarge ist eines der letzten unerschlossenen Ölgebiete Brasiliens und umfasst den gesamten nördlichen Küstenstreifen. Benannt nach ihrer Nähe zum Äquator, erstreckt sie sich von Amapá bis hinunter in den Bundesstaat Rio Grande do Norte.

Internen Studien von Petrobras zufolge könnte der Block, um den es bei dem Lizenzantrag geht, 5,6 Milliarden Barrel Öl enthalten. Das würde die brasilianischen Ölreserven auf einen Schlag um 37 Prozent erhöhen.

Energiesicherheit ist denn auch das Hauptargument der Befürworter. Die Ölbohrungen in der Region würden in ihrer Lesart die sichere Versorgung mit Energie gewährleisten, während Brasilien seine Energiewende vollzieht. Doch die Pläne stoßen auf Widerstand.

Die frühere Präsidentin der Ibama, Suely Araújo, stellt die Argumentation infrage. "Ein Block, in dem heute gebohrt wird, wird ein Jahrzehnt lang Öl und Lizenzgebühren abwerfen", sagt Araújo, die heute für Observatório do Clima, einen Zusammenschluss von 95 brasilianischen Umweltorganisationen, arbeitet.

"Wir haben keine zehn Jahre Zeit, um auf die Energiewende zu warten", warnte die Expertin. "Das würde die Klimakrise auf ein unerträgliches Niveau heben."

Lulas ehrgeizige Klima-Agenda steht auf dem Spiel

In seiner Antrittsrede vor dem Kongress im Januar 2023 präsentierte Lula seine Vision von Brasilien als "Umweltmacht". Er kündigte an, mehrere Entscheidungen der rechtsextremen Vorgängerregierung von Jair Bolsonaro rückgängig zu machen, mit denen Umweltvorschriften gelockert worden waren.

Seitdem sind unbestreitbar einige Fortschritte erzielt worden. Nach Angaben des brasilianischen Umweltministeriums ist die Abholzungsrate im Amazonasgebiet im Jahr 2023 im Vergleich zum Vorjahr um fast 50 Prozent gesunken, auf die niedrigste Rate der letzten fünf Jahre. Unabhängige Studien kamen auf 36 Prozent Rückgang.

Doch der Vorstoß, vor der Küste Amazoniens nach Öl zu bohren, deutet nun auf einen besorgniserregenden Trend hin, der sich bereits in Lulas erster Amtszeit von 2003 bis 2011 gezeigt hatte.

Zwar ging die Abholzung in Brasilien auch damals zurück. Dennoch räumte Lula der traditionellen industriellen Entwicklung Vorrang ein und nahm wenig Rücksicht auf Umweltauswirkungen. Während seiner Amtszeit finanzierte eine staatliche Bank die Ausweitung der Rindfleischindustrie auf das Amazonasgebiet, obwohl diese ein Hauptverursacher der Entwaldung ist. Zudem erschloss die staatliche Ölgesellschaft Petrobras umfangreiche neue Ölreserven.

Petrobras verweist darauf, seine seine Ölförderung an Land im Urucu-Ölfeld mitten im Amazonas-Regenwald seit 1986 sicher und unfallfrei sei. Das Unternehmen will dies als Beweis für Betriebssicherheit verstanden wissen.

Doch die Unfallbilanz des Sektors im Großraum Amazonien gibt genauso Anlass zur Sorge wie die 62 Unfälle allein im Jahr 2022 bei der brasilianischen Offshore-Ölförderung vor der Küste.

Brasilien muss sich entscheiden: entweder dem zerstörerischen Ansatz des "business as usual" folgen oder akzeptieren, dass die Erhaltung der Lebensgrundlagen auf dem Planeten mit der Ölförderung unvereinbar ist.

Das Öl muss im Boden bleiben

Im Mai 2024 erreichten die globalen Temperaturen die höchsten Werte, die jemals für diesen Monat aufgezeichnet wurden, und setzten damit einen jahrelangen Trend zu rekordverdächtiger Hitze fort. Es war der elfte Monat in Folge, in dem die Temperaturen die im Pariser Klimaabkommen festgelegte Schwelle von 1,5 Grad überschritten. In diesem Jahr standen große Teile des Amazonaswaldes in Flammen, was das Risiko eines Kollapses erhöht.

Eine aktuelle Studie von Nasa-Wissenschaftlern zeigt, dass bestimmte Regionen auf der Welt in den kommenden Jahrzehnten aufgrund steigender Temperaturen unbewohnbar werden könnten. Die Studie nennt Gebiete im Mittleren Westen, Nordosten, Norden und Südosten Brasiliens als Regionen, in denen extreme Hitze das menschliche Überleben innerhalb von 50 Jahren unmöglich machen könnte.

Neue Ölfelder zu erschließen ist unnötig, sagt sogar die Internationale Energieagentur. (Bild: James Jones/​Shutterstock)

Eine im Februar in der Zeitschrift Nature veröffentlichte Studie enthält besorgniserregende Prognosen für den Amazonas-Regenwald, wonach dieser in den nächsten 25 Jahren einen Großteil seiner Regenerationsfähigkeit verlieren könnte.

2022 veröffentlichte die Internationale Energieagentur IEA ihren zweiten Bericht innerhalb von zwei Jahren, wie netto null Emissionen bis 2050 erreichbar sind. Aus dem Bericht geht hervor, dass eine Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs auf 1,5 Grad bis zum Ende des Jahrhunderts immer noch möglich ist – sofern die weltweite Ölnachfrage deutlich zurückgeht, und zwar von 97 Millionen Barrel pro Tag im Jahr 2022 auf 77 Millionen im Jahr 2030 und 24 Millionen im Jahr 2050.

In einer Aktualisierung von 2023 hebt die IEA hervor, dass die Nachfrage nach fossilen Brennstoffen bis 2050 voraussichtlich um 80 Prozent zurückgehen wird. Das bedeutet, dass keine neuen langfristigen Projekte zur Öl-, Gas- und Kohleförderung und keine neuen CO2 emittierenden Kohlekraftwerke erforderlich sein werden.

Wenn sich dieses optimistische Szenario bewahrheitet und die weltweite Nachfrage nach fossilen Brennstoffen wie prognostiziert zurückgeht, wird es möglicherweise keine Abnehmer für das Öl geben.

Druck auf Amazonien

Lula sieht sich großem Druck ausgesetzt: vom Petrobras-Konzern, der das Äquatorialmarge-Projekt unbedingt durchziehen will, um "bis 2030 der drittgrößte Produzent der Welt zu werden", sowie von regionalen Politikern, die mit dem Versprechen von Arbeitsplätzen und Lizenzzahlungen gelockt wurden.

Aber auch Lula selbst glaubt an das Öl als Entwicklungsinstrument. Im vergangenen Jahr sagte er: "Wer im Amazonasgebiet lebt, hat Anspruch auf die materiellen Güter, die alle anderen auch haben" – als ob irgendeines der bisherigen Megaprojekte der lokalen Bevölkerung materiellen Wohlstand gebracht hätte und nicht Umweltzerstörung, Verelendung und Gewalt.

Andere Länder des Amazonasbeckens wie Ecuador und Kolumbien haben konkrete Schritte unternommen, um dem fossilen Kapital Einhalt zu gebieten. Brasiliens Unfähigkeit, dasselbe zu tun, spricht für die Stärke der Agrarindustrie, die ihren politischen Einfluss genutzt hat, um eine Gesetzesagenda durchzudrücken, die Pestizidvorschriften und andere Umweltregeln ebenso untergräbt wie die Rechte indigener Völker – und damit den Weg für einen ausgreifenden Extraktivismus ebnet.

 

Lula steht vor der Herausforderung, ökologische Nachhaltigkeit mit den laufenden Megaprojekten in Einklang zu bringen, die der Umwelt erheblichen Schaden zufügen und Brasiliens Ruf als "Umweltmacht" untergraben könnten.

Zu den wichtigsten Vorhaben gehören eine Eisenbahnlinie, die die Abholzung indigener Gebiete beschleunigen könnte, ein Ölbohrprojekt in der Äquatorialmarge, eine Autobahn durch unberührten Regenwald und die erneute Genehmigung für einen großen Staudamm mit Wasserkraftwerk.

Von Lulas Entscheidungen zu diesen Projekten wird abhängen, ob er seinen umweltpolitischen Kurs beibehalten und gleichzeitig wirtschaftliche Ziele erreichen kann.

Der Bau des Belo-Monte-Staudamms unter der ersten Lula-Regierung hatte Armut und ein Vordringen der Städte in den Regenwald zur Folge. Daran wird man erinnert, wenn jetzt die wichtigste brasilianische Tageszeitung Folha de São Paulo berichtet, dass "das Öl an der Amazonas-Küste Migrationswellen auslöst, bevor es überhaupt eine Bohrung gibt".

Trotz der inzwischen offensichtlichen schädlichen Folgen ihres Vorgehens setzen Lula und seine sozialdemokratische Arbeiterpartei PT diesen verhängnisvollen Weg fort. Wenn die letzten 20 Jahre eines gezeigt haben, dann dieses: Ein anderer Weg ist nicht nur möglich, sondern absolut notwendig.

Fossiles Kapital oder planetares Leben

Auch Ricardo Baitelo vom brasilianischen Institut für Energie und Umwelt warnt, dass Petrobras und die Befürworter fossiler Brennstoffe den schrumpfenden internationalen Ölmarkt zu optimistisch einschätzen. Er weist darauf hin, dass China, Brasiliens wichtigster Ölabnehmer, seinen Ölverbrauch schon vor 2030 senken und seine Abhängigkeit von importierten Kraftstoffen angesichts der Spannungen mit den Vereinigten Staaten verringern will.

Der Strategieplan von Petrobras, den die Regierung kürzlich genehmigte, sieht Investitionen in Höhe von 102 Milliarden US-Dollar für die nächsten fünf Jahre vor. Allerdings sollen nur elf Prozent dieses Budgets für "CO2-arme" Initiativen bereitgestellt werden, was unter den ursprünglich geplanten 15 Prozent und unter dem Durchschnitt der großen europäischen Ölgesellschaften liegt.

Trotz des Potenzials Brasiliens, sein Energiesystem umzustellen, wird in dem Plan der Förderung und Produktion von Öl und Gas Vorrang eingeräumt, und 72 Prozent der Mittel sollen in diese Sektoren fließen.

 

Petrobras, daran sei noch einmal erinnert, ist ein öffentliches Unternehmen. Das heißt, es könnte und sollte längerfristigen strategischen Überlegungen, die das öffentliche Interesse berücksichtigen, Vorrang geben vor kurzfristigen Marktimperativen für Aktionärsgewinne.

In Brasilien gibt es eine Vielzahl sozialer Bewegungen, die von ländlichen, städtischen und indigenen Aktivistinnen und Aktivisten getragen werden. Es ist unbedingt notwendig, dass sie zusammenarbeiten und die Klimakrise als verbindende Klammer nutzen, um Druck auf die brasilianische Bundesregierung auszuüben.

Die Agrarindustrie und das fossile Kapital üben bereits großen Druck aus, und wenn die brasilianischen Bewegungen nicht aktiv werden, wird der Privatsektor die politische Lücke füllen.

Es gibt konkrete Projekte, um die sich eine Pro-Klima-Koalition scharen kann. Und es gibt keinen Mangel an Maßnahmen, die die Regierung Lula ergreifen kann, wenn sie eine ernsthafte Klima-Agenda verfolgen will.

Sie muss aber mit dem vergeblichen Versuch aufhören, die Quadratur des Kreises zwischen fossilem Kapital und planetarem Leben zu finden. Es gibt keinen Mittelweg.

Übersetzung aus dem Englischen: Verena Kern