Fast so alt wie das Bruttoinlandsprodukt (BIP oder englisch GDP) ist die Kritik an dieser Messgröße, die die Leistung einer Volkswirtschaft aus rein monetärer Sicht bewertet. Die Politik in aller Welt orientiert sich vor allem am BIP-Wachstum, obwohl viel dafür spricht, dass dadurch zum Beispiel die ökologischen Krisen verschärft werden.
Die Vereinten Nationen haben diese Kritik aufgegriffen und wollen eine Ergänzung oder Alternative zum BIP etablieren. UN-Generalsekretär António Guterres hat nun eine hochrangige Gruppe von Fachleuten ernannt, die entsprechende Empfehlungen machen soll.
Die UN-Mitgliedsstaaten hatten die Einrichtung einer solchen Arbeitsgruppe im letzten Herbst auf der UN-Generalversammlung in New York beschlossen – als Teil eines "Pakts für die Zukunft".
Tatsächlich ist die Idee noch älter. Denn schon vor zehn Jahren bei Verabschiedung der Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) verpflichteten sich die Länder, bis 2030 Messgrößen für den Fortschritt zu entwickeln, die das BIP ergänzen.
Guterres sagte zu dem aktuellen "Beyond GDP"-Projekt: "Diese Initiative könnte nicht zeitgemäßer sein. Jeden Tag erleben wir die Folgen unseres Versagens, die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Dimensionen der Entwicklung in Einklang zu bringen."
Extremwetter-Katastrophen steigern das BIP
So würden bei der BIP-Berechnung viele Aspekte übersehen, die zum menschlichen Wohlergehen beitragen, bemängelte der UN-Chef. Gleichzeitig würden Aktivitäten positiv bewertet, die den Menschen und dem Planeten schaden.
Tatsächlich wird das BIP zum Beispiel durch den kostspieligen Wiederaufbau nach Extremwetterereignissen wie Überschwemmungen oder Hurrikans gesteigert, während etwa die Qualität von Produkten oder Dienstleistungen unberücksichtigt bleibt.

Für das BIP spielt es keine Rolle, ob Produkte zum Beispiel unter menschenwürdigen Bedingungen hergestellt werden oder nicht. Zudem sagt der Messwert nichts über die materielle Ungleichheit in einer Gesellschaft aus.
Der UN-Generalsekretär hatte die etablierte Methodik schon früher scharf kritisiert. Das BIP erfasse "weder das menschliche Wohlergehen noch die ökologische Nachhaltigkeit noch nicht marktbasierte Dienstleistungen, Pflege- und Betreuungsarbeit".
Guterres forderte die Staatengemeinschaft auf, sich auf alternative Fortschrittsindikatoren zu verständigen, denn: "Ohne dieses grundlegende Umdenken werden wir die Ziele nicht erreichen können, die wir uns im Hinblick auf Biodiversität, Umweltverschmutzung und Klimawandel gesteckt haben."
"Das Wohlergehen von Menschen und Planet messen"
Zum Start der Arbeitsgruppe sagte er nun: Um die notwendigen Fortschritte zu erzielen, müsse "das Wohlergehen der Menschen und des Planeten im Mittelpunkt dessen stehen, was wir messen und bewerten". Ein entsprechend ergänztes BIP könne einen Paradigmenwechsel ermöglichen, der die Politikgestaltung auf nachhaltige Entwicklung und Wohlstand für alle ausrichtet.
Relevant für die Debatte ist etwa der vom UN-Umweltprogramm Unep bereits 2012 ins Leben gerufene "Inclusive Wealth Index", der die Fähigkeit einer Nation misst, menschliches Wohlergehen im Laufe der Zeit zu schaffen und zu erhalten.
Eine wichtige Rolle spielt auch der "SDG-Index", der im Auftrag von Guterres vom Nachhaltigkeits-Thinktank SDSN entwickelte wurde. Ein ergänzender "Spillover-Index" soll zudem negative Folgen des Wirtschaftens eines Landes auf andere Länder berücksichtigen.
Interessant ist auch ein Ansatz wie beim "Thriving Places Index", der in Großbritannien speziell zur Messung von Wohlstand und Wohlbefinden auf der kommunalen Ebene entwickelt wurde.
Beauftragt wurde die Gruppe mit der Ausarbeitung eines konzeptionellen Rahmens, der die wichtigsten "Fortschrittsdimensionen" erfasst, sowie mit der Entwicklung von universell anwendbaren Indikatoren für nachhaltige Entwicklung. Die 14 Fachleute sollen sich während des gesamten Prozesses eng mit den UN-Mitgliedsstaaten und den wichtigsten Interessengruppen abstimmen.
Geleitet wird die Gruppe von zwei Vorsitzenden, Nora Lustig und Kaushik Basu, prominentestes Mitglied ist Joseph Stiglitz, ein früherer Weltbank-Chefökonom und Regierungsberater. Ergebnisse sollen zur UN-Generalversammlung im Herbst vorliegen, dort soll dann ein "zwischenstaatlicher Prozess" starten, in dem über die Umsetzung beraten wird.