Es bewegt sich etwas in Großbritannien: Das britische Unterhaus hat am Mittwochabend einer Vorlage der sozialdemokratischen Labour Party zugestimmt, der zufolge die Regierung den "Klima-Notstand" ausrufen soll. Zudem wird darin eine "grüne industrielle Revolution" gefordert, die sich über alle Sektoren erstreckt.
Labour-Chef Jeremy Corbyn eröffnete die Debatte mit der Warnung, dass die Klimaneutralität nach aktuellen Trends erst zum Ende des Jahrhunderts erreicht wäre, "wenn unsere Kinder längst um das Überleben auf einem sterbenden Planeten kämpfen".
Corbyn griff damit die Rhetorik der Extinction-Rebellion-Bewegung auf, die in den vergangenen zwei Wochen zentrale Verkehrsknotenpunkte in London blockiert hatte, um vor einem Massenaussterben durch den Klimawandel zu warnen. Die Polizei verhaftete mehr als tausend der Aktivisten, schaffte es aber nicht, die Proteste aufzulösen.
Thunberg: "Historisch und hoffnungsstiftend"
Viele bei "Extinction Rebellion" verbuchen den Beschluss denn auch als Erfolg. "Das wäre ohne unsere Bewegung schlicht nicht passiert", twitterte etwa die Ortsgruppe Cambridge. "Die Helden, die verhaftet wurden, haben das auf der politischen Agenda nach oben geschoben."
Die mediale Aufmerksamkeit für den Klimawandel war in den vergangenen Wochen auf jeden Fall außergewöhnlich groß, wie die Denkfabrik Carbon Tracker ermittelt hat. So oft wie in diesem April haben britische Medien den Klimawandel demnach fast noch nie erwähnt. Im vergangenen Jahrzehnt gab es nur einen Monat, in dem das häufiger der Fall war. Das war der Dezember 2009, in dem das geplante Klimaabkommen von Kopenhagen scheiterte.
Auch andere Aktivisten nutzten den Kurznachrichtendienst Twitter, um den Parlamentsbeschluss zu kommentieren. Greta Thunberg, die schwedische Initiatorin der Schulstreik-Bewegung "Fridays for Future" nannte die Nachricht "historisch und sehr hoffnungsstiftend", sofern den Worten Taten folgen würden. Andere Länder müssten jetzt dem Beispiel Großbritanniens folgen.
Luisa Neubauer, eine bekannte Stimme der deutschen Fridays-for-Future-Bewegung, schrieb: "Proteste wirken: Als erstes Land weltweit hat Großbritannien den Klimanotstand ausgerufen." Neubauer schloss die Frage an, wann es in Deutschland so weit sei. "Ab wann behandeln wir die Krise wie eine Krise?"
Regierungsberater legen Plan für Klimaneutralität vor
Für die britische Regierung ist der Beschluss des Parlaments nicht bindend, die Resolution wirkt lediglich als Aufforderung. Damit sich das bald ändert, haben britische Regierungsberater vom Committee on Climate Change (CCC) heute empfohlen, dass Großbritannien sich verpflichtet, bis 2050 klimaneutral zu werden. Einen Fahrplan, wie das vonstatten gehen kann, hat das Gremium auch erarbeitet.
"Wir können alle sehen, dass das Klima sich ändert und dass wir eine ernst zu nehmende Antwort darauf brauchen", sagte John Gummer, CCC-Vorsitzender und konservativer Oberhausabgeordneter. "Die tolle Nachricht ist nicht nur, dass es für das Vereinigte Königreich möglich ist, seine Rolle dabei voll auszufüllen, sondern auch, dass das im vom Parlament akzeptierten Kostenrahmen geschehen kann." Zwischen einem und zwei Prozent der britischen Wirtschaftsleistung wird der Umbau der Wirtschaft dem Komitee zufolge kosten.
Auch hier gilt wieder: Die Regierung ist nicht verpflichtet, den Plan in die Tat umzusetzen. Seit mehr als zehn Jahren folgen aber die britischen Regierungen in der Praxis den Vorschlägen des Komitees. Es ist deshalb anzunehmen, dass das auch diesmal weitgehend geschieht. Großbritannien wäre damit unter den Industrieländern Vorreiter beim Klimaschutz.
Klimaneutral 2050 – reicht das?
Ob Großbritannien damit seinen fairen Beitrag zum Erreichen des Pariser Klimaabkommens liefern würde, ist umstritten. In Paris haben sich die Staaten das Ziel gesetzt, die Erderwärmung möglichst bei 1,5 Grad gegenüber vorindustriellen Zeiten zu begrenzen.
Da die Welt schon bei ungefähr einem Grad angekommen ist, ist das eine riesige Herausforderung – aber noch zu schaffen, hat der Weltklimarat IPCC im vergangenen Jahr in einem Sonderbericht gezeigt. Eine 50-prozentige Chance hätte die Welt, wenn sie bis 2050 klimaneutral wird, und zwar insgesamt.
Formal wäre Großbritannien also auf "Paris-Kurs", wenn das Land auf die Klimaneutralität im Jahr 2050 hinarbeitet – allerdings streiten sich die Staaten seit vielen Jahren darüber, wie die Klimapflichten verteilt werden sollten. Das Paris-Abkommen macht dazu keine konkreten Angaben.
Mittlerweile besteht mehr oder weniger Konsens, dass die wirtschaftsstarken Industrieländer, die den Klimawandel größtenteils verursacht haben, ihre Emissionen schneller senken müssen als die Entwicklungsländer. Ein solches Vorangehen würde aber bedeuten, dass die Industrieländer schon deutlich vor 2050 keine Treibhausgase mehr freisetzen. Oder es müssten im großen Stil Technologien eingesetzt werden, die der Atmosphäre Treibhausgase entziehen – die sind aber nicht ausgereift und gelten außerdem als riskant und konfliktträchtig.
"Ein Verrat an heutigen und künftigen Generationen"
"Extinction Rebellion" ist daher erwartungsgemäß unzufrieden mit den Empfehlungen der Regierungsberater. "Der Rat des CCC an die Regierung ist ein Verrat an heutigen und künftigen Generationen und ist umso schockierender, da er nur Stunden kommt, nachdem das Parlament dafür gestimmt hat, den Klima-Notstand auszurufen", twitterten die Klimaaktivisten.
Die Umweltorganisation Friends of the Earth zeigte sich zwiegespalten. "Das ist ein riesiger Berg wichtiger und glaubwürdiger Arbeit vom CCC, aber die Lage ist noch dringlicher", sagte der Umweltschützer Aaron Kiely. "Eine Fifty-fifty-Wahrscheinlichkeit, die 1,5-Grad-Marke trotzdem zu knacken, das ist eine schlechtere Quote als beim Russisch Roulette." Jede Regierung solle deshalb versuchen, so schnell wie möglich klimaneutral zu werden.
Christiana Figueres, die ehemalige Chefin des UN-Klimasekretariats, lobte den Vorstoß: "Klimaneutralitätsziele zu setzen und diese so schnell wie möglich, spätestens 2050, zu erreichen, ist nötig, wünschenswert und machbar."