Paris sperrt das Seine-Ufer für Autos, London und Amsterdam reduzieren jedes Jahr Parkplätze und Barcelona schafft in immer mehr Wohngebieten autofreie Zonen. Die neuen Freiräume werden nicht nur von den Kindern schnell angeeignet, um zu spielen, sondern auch von Älteren geschätzt, die sich wieder aus ihren Wohnungen trauen.
Ein Verkehrsversuch steht nun vor der Tür, der auch in Berlin mehr Freiraum auf und an den Straßen ermöglichen soll. An einem sonnigen Samstag Ende April standen neun Forscher:innen des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) auf dem Hohenstaufenplatz in Kreuzberg. Sie gruppierten sich um Schautafeln und eine Lautsprecheranlage und kamen mit vielen Bürger:innen ins Gespräch.
Der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg hat beschlossen, im Graefekiez zunächst in Teilabschnitten der Böckh- und Graefestraße Stellplätze am Straßenrand umzuwidmen und zu entsiegeln sowie im umliegenden Kiez zusätzliche Lade- und Lieferzonen und Sharing-Stationen einzurichten. Schließlich soll die Durchfahrt von der Schönlein- in die Dieffenbachstraße für Kraftfahrzeuge gesperrt werden.
Die Entsiegelung und die Durchfahrtsperre sind zunächst auf ein halbes Jahr begrenzt. Im Juni soll dieser Verkehrsversuch starten. Das WZB begleitet den Versuch zusammen mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), dem Potsdamer Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit und der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen.
Gute Voraussetzungen und viel Zustimmung
Die Voraussetzungen sind gut: Mit etwas mehr als 180 Pkw pro 1.000 Einwohner:innen liegt die Fahrzeugdichte im Graefekiez weit unter dem Berliner Durchschnitt. Die den Versuch tragenden Parteien Grüne und SPD haben eine klare Mehrheit in der Bezirksversammlung und schon lange gibt es Initiativen vor Ort, die beispielsweise für die regelmäßige Organisation einer Spielstraße sorgen.
In den Diskussionen wurde auch deutlich: Der Verkehrsversuch erhält insgesamt viel Zustimmung, manchen im Kiez geht sogar alles nicht weit und nicht schnell genug. Gleichzeitig wurde in einigen Gesprächen klar, dass die anstehende zeitweise Umwidmung bisher frei verfügbarer Parkplätze sowie die Durchfahrtsperre nicht nur Unterstützung finden.
So wird von einigen der Wegfall von sowieso schon knappen Parkmöglichkeiten beklagt. Andere wenden ein, dass weniger Autos im ja bereits verkehrsberuhigten Kiez besser mit einer Parkraumbewirtschaftung und teurerem Anwohnerparken erreicht werden könnten.
Kritik gibt es auch an als unzureichend und widersprüchlich empfundenen Informationen vom Bezirk. Selbst ausdrückliche Befürworter des Vorhabens finden die bisherige Kommunikation problematisch.
Bei der Kritik geht es aber gar nicht so sehr um verlorene Parkgelegenheiten. Geäußert werden Sorgen und Befürchtungen, die wenig mit den Einschränkungen für den privaten Autoverkehr im geplanten Graefekiez-Vorhaben zu tun haben.
Die Gespräche zum Verkehrsversuch schienen Anlass und auch Gelegenheit zu sein, eine generelle Unzufriedenheit loszuwerden. So kritisieren einige Bürger:innen vehement, dass die Folgen einer besseren Aufenthaltsqualität im Kiez nicht bedacht würden. Sie haben Sorge, dass der Party-Tourismus und damit Lärm und Müll weiter zunehmen, wenn es statt der Parkplätze attraktive Sitzgelegenheiten gibt.
Die Meinungen sind teilweise polarisiert
Neben Kritik und Sorgen wurden auch konkrete Gestaltungsideen und Anregungen für die Nutzung der frei werdenden Flächen vorgebracht. Mehrfach kam der Hinweis, dass es laufend (verkehrliche) Kontrollen geben müsse, damit das Falschparken geahndet wird und das Rasen in den verkehrsberuhigten Straßen aufhört. Das bestätigten auch die fast 70 Kurzfragebögen, die am Stand ausgefüllt wurden, und die Statements an Stelltafeln.
Weert Canzler
ist Co-Leiter der Forschungsgruppe Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB). Der Politik- und Sozialwissenschaftler ist Autor zahlreicher Bücher zur Verkehrswende.
Die Beteiligung an den Straßendiskussionen und an der Fragenbogenaktion war rege, es wurden viele Kontaktdaten von Interessierten an vertiefenden Befragungen und zielgruppenspezifischen Fokusgruppen gesammelt. Der Hauptzweck der Veranstaltung wurde erfüllt.
Um Repräsentativität zu erreichen, ist für den Sommer eine schriftliche Umfrage geplant, die auf den Graefekiez beschränkt ist. Dennoch zeigt das Feedback schon jetzt, wie divers und teilweise polarisiert die Meinungen sind.
Vereinzelt gab es auch Kritik an der Befragung zu möglichen Verkehrswendeszenarien, die sich im Vorfeld des Projekts an den gesamten Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg richtete. In dieser vom Meinungsinstitut Infas durchgeführten schriftlichen Befragung wurden mehrheitlich sogar noch viel weiter gehende Einschränkungen für das private Auto befürwortet. Manche fühlten sich bei der Befragung nicht hinreichend einbezogen.
Aus Forschungsperspektive war auffällig, dass die Besucher:innen am Stand nicht so divers waren wie das eingesammelte Feedback. Stark vertreten war die mittlere Altersgruppe, während die Jungen und die Betagten fast völlig fehlten. Es gab auch kaum Gespräche mit Personen mit Migrationsbezug.
Offensichtlich wurde das auch bei den eingesammelten Kurzfragebögen: Zwar lagen sie auch in englischer und türkischer Sprache aus, ausgefüllt wurden jedoch ausschließlich Fragebögen in deutscher Sprache.
Auch die erreichen, die sich kaum äußern
Der Auftakt ist gemacht. Aus forschungspragmatischer Sicht lautet das Fazit: Gerade für eine wissenschaftliche Begleitung sind solche Veranstaltungen vor Ort und auf der Straße sinnvoll und hilfreich. Es muss viel in jedem Gespräch aufs Neue erklärt werden.
Aus den Erfahrungen in vielen Verkehrsprojekten wissen wir, wie wichtig Kommunikation für ihr Zustandekommen und für ihre Akzeptanz ist. Der entscheidende Mehrwert solcher Veranstaltungen liegt jedoch in der Rekrutierung von Teilnehmer:innen für zielgruppenbezogene Fokusgruppen und für vertiefende Einzelinterviews.
Beides sind wichtige Methoden in der geplanten qualitativen Analyse eines Realexperiments, in dem bisherige Verhaltensweisen und eine über lange Zeit gültige Verteilung des öffentlichen Raums zumindest zeitweise infrage gestellt werden.
Diese Rekrutierungsversuche sind bei der Auftaktveranstaltung nur zum Teil gelungen. Das Publikum einer angekündigten öffentlichen Veranstaltung ist selbstselektiv. Es ist Kreativität gefragt, um diejenigen zu erreichen, die sich bisher kaum zum Projekt Graefekiez geäußert haben. Dafür muss die Forschung im wörtlichen Sinne immer wieder auf die Straße gehen und auch in den Erhebungsmethoden experimentieren.
Das passiert das nächste Mal am 3. Juni. Am Samstagnachmittag wird es einen Workshop zum Thema Parken im Fishbowl-Format auf dem Hohenstaufenplatz geben. Alle Anwohner:innen und im Kiez Arbeitenden sind eingeladen, ihre Meinungen und Anregungen einzubringen.
Eine wichtige Erkenntnis lässt sich bereits festhalten: Der Verkehrsversuch im Graefekiez startete mit der Frage der Umnutzung von Parkflächen, aber schon nach kurzer Zeit rücken ganz grundsätzliche Fragen in den Mittelpunkt: Wie wollen wir zukünftig in der Stadt leben? Wie ruhig und dörflich soll es zugehen? Welches Risiko einer freien Fläche, auf der vorher nur Autos standen, gibt es und welche möglichen Zumutungen im öffentlichen Raum werden von wem ertragen?
Urbanes Zusammenleben war schon immer mit der Notwendigkeit und den Grenzen der individuellen und kollektiven Ambivalenztoleranz verbunden, also der Fähigkeit, mehrdeutige und widersprüchliche Situationen auszuhalten. Diese Spannung kommt nun erneut zum Vorschein, lange war sie von der Autodominanz überlagert.
Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem
Wie kommen wir in Zukunft von A nach B? Fest steht: Es geht nur radikal anders als bisher. Aber wie? Die Gruppe "Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem" entwickelt Ideen für die Mobilität von morgen. Hier schreiben Wissenschaftler:innen und Expert:innen über Wege in ein neues Verkehrssystem, das flüssig, bequem, gerecht und klimafreundlich ist – jenseits von Allgemeinplätzen und Floskeln. Das Dossier erscheint in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).