Weiße zylinderförmige Anlage mit einigen Leitungen und Stutzen, darauf der Firmenname Nuscale.
Auch die neuen Konzepte für "kleine modulare Reaktoren" werden immer teurer, sagt Mycle Schneider. (Foto/​Ausschnitt: Oregon State University/​Wikimedia Commons)

Klimareporter°: Herr Schneider, Deutschland als größte Volkswirtschaft der EU steigt endgültig aus der Atomkraft aus. Nachbarländer hingegen wollen neue Reaktoren bauen: Frankreich, die Niederlande, Tschechien, Polen, ebenso eine Reihe anderer EU-Staaten. Ist der deutsche Ausstieg aus der Zeit gefallen?

Mycle Schneider: Nein, er beschleunigt einen Prozess, der in anderen Ländern langsamer, ungeplant und oft schmerzlich erlitten wird. Ankündigungen des Neubaus von Atomkraftwerken reichen nicht aus, um Wunschdenken in industrielle Realität zu verwandeln.

Sie rechnen also nicht damit, dass die in der EU insgesamt geplanten oder angekündigten rund 15 bis 20 AKW tatsächlich gebaut werden?

Es ist schlicht unmöglich, weil die nötigen industriellen Kapazitäten fehlen. Wenn es in Frankreich bis nach 2050 dauern könnte, bis die ersten sechs neuen AKW in Betrieb gehen, wie eine geleakte Regierungsanalyse zeigt, wie soll es dann in den Niederlanden, Polen oder Schweden, die keine eigene Atomindustrie im Land haben, zeitnah funktionieren?

In der EU gingen in den letzten 30 Jahren gerade mal zwei AKW in Bau, die französischen EPR-Projekte Olkiluoto 3 in Finnland und Flamanville 3 in Frankreich. Der finnische Reaktor hat nach 17 Jahren Bauzeit in diesem Frühjahr etwas Strom produziert und wurde dann wegen Schäden in den Speisewasserpumpen wieder abgeschaltet. Der französische hat auch nach 16 Jahren noch keine Kilowattstunde geliefert.

Was ist denn der Vorteil der deutschen Strategie? Mit den drei AKW, die jetzt vom Netz gehen, fallen sechs Prozent CO2-armer Stromproduktion weg, die durch Kohle oder Erdgas ersetzt werden ...

Die deutsche Strategie beschränkt sich ja nicht auf die jetzt bevorstehende Abschaltung von drei Reaktoren. Seit 2010 hat Deutschland die Produktion aus erneuerbaren Energien um das Doppelte dessen erhöht, was durch die Abschaltung von AKW seit 2011 verloren ging. Das erlaubte es, die fossilen Energien gleichzeitig zu drosseln.

Und das wurde erreicht trotz grober, teurer und unentschuldbarer Fehler wie der Zerstörung der nationalen Solarindustrie, der sträflichen Vernachlässigung der Energieeffizienz und -suffizienz sowie der mangelnden Umrüstung auf dezentralere, intelligente Netze.

Wenn andere EU-Länder trotzdem auf eine Renaissance der Atomkraft setzen – was treibt sie dazu?

Es gibt zurzeit eine regierende politische Klasse in knapp der Hälfte der EU-Länder, die dem französischen Atommythos, einflussreichen Lobbyisten und skrupellosen Propagandisten auf den Leim gegangen ist.

Warum ist die Pro-AKW-Bewegung in Frankreich so stark?

Porträtaufnahme von Mycle Schneider.
Foto/​Ausschnitt: S. Röhl/​Wikimedia Commons

Mycle Schneider

ist inter­nationaler Energie- und Atom­politik-Analyst und Heraus­geber des World Nuclear Industry Status Report, eines jährlichen unabhängigen Berichts zur Entwicklung der globalen Atom­industrie. Er lebt in Paris und berät Regierungen und inter­nationale Organisationen. 1997 erhielt er den Alternativen Nobel­preis.

Das kann man nur mit irrationaler Verklärung der Regierung und kollektiver Inkompetenz der Volksvertreter erklären.

Schon im Vor-Covid-Jahr 2019 hatte der französische AKW-Betreiberkonzern EDF die Kontrolle über seine atomaren Produktionsanlagen verloren. Die Wartungs-Stillstände dauerten nach unseren Berechnungen im Schnitt 96 Tage, 44 Prozent länger als geplant.

2022 standen die AKW dann im Schnitt jeweils 152 Tage still. EDF fuhr einen Rekordverlust von 18 Milliarden Euro ein, und das französische Stromnetz musste von den Nachbarländern gerettet werden, vor allem mit Netto-Importen von 15 Milliarden Kilowattstunden aus Deutschland. Schweißer wurden für Reparaturen aus den USA und Kanada eingeflogen, Ersatzteile in Italien geordert.

Die von Präsident Macron angekündigten Neubau-Pläne für AKW sind weder finanziell noch von den Industriekapazitäten her in einem für das Klimaproblem relevanten Zeitrahmen realisierbar. Man kann für eine Renaissance keine Atomtechniker, -ingenieure und -manager 3D-drucken.

Die Gefahr eines Super-GAU spielt in der Debatte praktisch keine Rolle. Wie real ist die Gefahr in Europa überhaupt?

Gegenfrage: Wie real ist die Gefahr eines schweren Unfalls mit einem 40 Jahre alten Auto? Das Angstniveau sagt nichts über die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls aus.

Wir haben lange eine gesellschaftliche Akzeptanz der Atomkraft von einer einfachen Formel abgeleitet: Katastrophe bei einem Unfall mal rechnerisch niedrige Eintrittswahrscheinlichkeit gleich akzeptables Risiko. Diese Gleichung war immer fraglich. Doch in Zeiten von Uralt-AKW, Klimawandel, hochtechnisiertem Terrorismus und tabulosem Krieg, siehe Ukraine, ist sie ad absurdum geführt.

Und man muss nüchtern hinzufügen: Einen echten Super-GAU, etwa einen Brand in einem Abklingbecken für abgebrannten, hochradioaktiven Atombrennstoff, haben wir glücklicherweise noch nie gesehen. Ein solches Ereignis könnte Tschernobyl oder Fukushima im Vergleich als Petitesse erscheinen lassen.

Die EU hat die Atomkraft allerdings als grüne Technologie eingestuft. Das dürfte doch einen Push dafür geben.

Die EU hat die Riesenchance verpasst, für die globale Investorenwelt einen ökologischen Goldstandard zu setzen. Die Entscheidung, Atomkraft und Erdgas im Rahmen der sogenannten Taxonomie ein Nachhaltigkeitssiegel zu geben, ist grotesk und als Orientierungshilfe eine Fehlentscheidung.

Erdgas schadet dem Klima stark, und Atomkraft setzt mit dem Atommüll-Problem die intergenerationelle Gerechtigkeit außer Kraft. Einen Push für AKW-Neubauten wird es trotzdem nicht geben, weil Investoren weltweit längst entschieden haben, wohin das Geld fließt, nämlich nicht in die Atomkraft.

Die Nuklearbranche spricht aber schon seit Langem von einer globalen Renaissance der Atomkraft.

Der erste Hinweis auf eine bevorstehende "Renaissance der Atomkraft" findet sich 1981 in der New York Times. Damals war Ronald Reagan US-Präsident. Stattgefunden hat sie nie.

Der historische Rekord an AKW-Baustellen, 234 Stück, von 1979 steht noch. Heute gibt es nicht einmal ein Viertel davon, nämlich 57. Die meisten Baustarts in einem Jahr, 44, gab es bereits 1976, so viele wie in den letzten acht Jahren zusammen.

Aber Länder wie China und Russland haben Pläne für Dutzende neue Reaktoren. Ist das keine Renaissance?

Pläne produzieren keinen Strom. China ist in der Tat das einzige Land, das in den letzten 20 Jahren massiv AKW gebaut und 49 von insgesamt 99 Betriebsaufnahmen durchgeführt hat. Über denselben Zeitraum wurden weltweit 106 AKW stillgelegt, es gab einen signifikanten Netto-Rückgang von 55 Reaktoren außerhalb Chinas.

Doch nach der Fukushima-Katastrophe hat China seine Ambitionen drastisch zurückgeschraubt und die Ziele des Fünfjahresplans für 2020 weit verfehlt. China wird auch seine Ziele für 2025 verpassen.

Der größte Atomtechnologie-Lieferant ist heute Russland. Fast jeder zweite der 57 derzeit in Bau befindlichen Reaktoren beruht auf russischen Designs. Von den 25 Baustarts der letzten drei Jahre fanden 15 in China statt, die anderen wurden von der russischen Industrie in verschiedenen Ländern in Angriff genommen.

Unter dem Strich gilt: Die "Renaissance" bleibt ein Hirngespinst und hat mit industrieller Realität nichts zu tun.

Die Internationale Energieagentur IEA plädiert für die Nutzung und den Bau von AKW, um die Klimakrise zu bekämpfen, zumindest als Brückentechnologie. Ist das Unsinn?

 

Die IEA hat in ihrer "Net Zero Roadmap" geschrieben: "2050 werden fast 90 Prozent der Stromproduktion aus erneuerbaren Quellen kommen, wobei Windkraft und Photovoltaik zusammen für 70 Prozent stehen." Da bleibt nicht viel Platz für die Atomkraft.

Allerdings würde eine Beibehaltung des heutigen Zehn-Prozent-Anteils bereits eine Verdopplung der derzeitigen Atomstrom-Produktion erfordern. Dafür gibt es nicht die geringsten Anzeichen.

Zudem sagt die IEA voraus, dass Solar- und Windkraft ihren Kostenvorteil gegenüber der Atomkraft weiter erheblich ausbauen werden und 2050 nur noch ein Fünftel beziehungsweise weniger als die Hälfte des Atomstroms kosten sollen. Den Rest regelt der Markt, wie man überall sehen kann.

Sollte man die existierenden Reaktoren nicht wenigstens länger laufen lassen?

Wir reden über einen Klimanotstand. Da scheint es logisch, alle erdenklichen bereits existierenden Optionen zu nutzen. Doch ist das "Länger-Laufen-Lassen" wirklich eine Option? Ich kann einen Euro nur einmal ausgeben. Wenn ich ihn für den Klimaschutz einsetze, muss ich die Treibhausgasemissionen möglichst schnell, möglichst stark und nachhaltig reduzieren.

Die Verlängerung des AKW-Betriebs ist aber keine Garantie für Stromproduktion. Alle französischen Meiler haben eine gültige Betriebsgenehmigung, doch seit über einem Jahr produziert oft nur die Hälfte Strom.

Neue Solar- und Windkraftanlagen können heute Strom zu einem Preis produzieren, der oft weit unter den Betriebskosten der AKW liegt. Ein Weiterbetrieb von 40 Jahre alten Meilern verschiebt das Problem und verstopft den Weg zu nachhaltigen, dezentraleren Systemen.

 

Länder wie Frankreich, Großbritannien und die USA setzen mittlerweile auch auf neue Reaktortechnologien, etwa die Small Modular Reactors, SMR. Die sollen super-sicher sein, teils sogar Atommüll vernichten. Wäre das nicht eine Lösung?

Das ist schlicht Unfug. Es gibt nicht ein einziges SMR-Design in der westlichen Welt, das eine komplette Genehmigung hätte. Das am weitesten gediehene Konzept, das der Firma Nuscale in den USA, wird immer größer und immer teurer. Die geschätzten Kosten für ein Nuscale-Modul sind bereits auf über 20.000 US-Dollar pro Kilowatt Leistung gestiegen, etwa das Doppelte des teuersten EPR-Reaktors der Franzosen.

Und die Atommüllvernichtungsreaktoren, eine Mischung aus alten Ideen und neuen Fantasien, gibt es noch viel weniger als die SMRs. Unsere Gesellschaften haben weder Zeit noch Geld, schwerwiegende Investitionsentscheidungen auf der Basis von Power-Point-Designs von Fantasten zu fällen.

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