AKW-Reaktorgebäude und Hochspannungsmasten hinter Stacheldraht am Meer.
Weil das AKW Penly aus dem Ärmelkanal gekühlt wird, will Frankreich hier die ersten zwei neuen Reaktoren bauen. (Foto/​Ausschnitt: Morpheus 2309/​Wikimedia Commons)

Deutschland und Frankreich gelten als die Motoren der Europäischen Union. Es sind die zwei größten Volkswirtschaften in der EU mit vergleichbarer Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung. Doch in der Energiepolitik beschreiten sie Wege, die unterschiedlicher nicht sein könnten.

Das zeigt sich gerade besonders deutlich: Die Bundesrepublik steigt dieser Tage endgültig aus der Atomkraft aus und strebt 100 Prozent erneuerbare Energien an, die "Grande Nation" hingegen hält an dauerhaft an der Kernspaltung fest und will sogar eine Reihe neuer AKW bauen, die auch in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts noch Strom liefern sollen.​

Frankreich ist wie kein anderes Land weltweit von der Atomkraft abhängig. Es laufen dort 56 Reaktoren, die in den letzten Jahren im Schnitt rund zwei Drittel des verbrauchten Stroms lieferten, der übrigens in vielen Haushalten auch zum Heizen eingesetzt wird.

Zum Vergleich: In Deutschland lag der Spitzenwert im Jahr 1999 bei rund 35 Prozent Atomstrom. In Frankreich kommt derzeit erst rund ein Viertel des Stroms aus erneuerbaren Energien, hierzulande knapp die Hälfte.

Allerdings hat die Abhängigkeit von der Atomkraft Frankreich auch in große Probleme gestürzt. Die alternde AKW-Flotte erweist sich zunehmend als störanfällig. Im vorigen Jahr musste zeitweise mehr als die Hälfte der Reaktoren abgeschaltet werden, wegen Revisionen, festgestellter Korrosionsrisse und Kühlwasser-Mangel.

Erstmals seit 1980 importierte Frankreich, bisher ein Stromexport-Land, netto Elektrizität, unter anderem nicht unerhebliche Mengen aus Deutschland. Der Strommangel trieb die Preise, nicht nur in Frankreich selbst, sondern auch in den umliegenden Ländern.

Immer mehr Risse durch Rostschäden

Ein Faktor bei der sinkenden Zuverlässigkeit der AKW ist ihr Alter. Die meisten der 56 Reaktoren sind über 30 Jahre alt, ein Drittel sogar über 40 Jahre. Dadurch häufen sich nötige Reparaturen.

Allerdings traten gravierende Schäden auch an den neueren, besonders leistungsstarken Anlagen auf. Bei einer Kontrolle im vorigen Jahr wurden Korrosionsrisse an Leitungen im Notkühlsystem eines Reaktors entdeckt, weswegen eine Reihe baugleicher Anlagen bis Ende dieses Jahres durchgecheckt und gegebenenfalls repariert werden soll.

Und dann im vergangenen Monat ein besonders kritischer Fall im Reaktor Penly 1 in der Normandie: ein 24 Millimeter tiefer Riss in einer 27 Millimeter dicken Leitung. "Wir waren nahe dran an einem Leck", so die Vizechefin des Instituts für Strahlenschutz und Nuklearsicherheit in Paris, Karine Herviou.​

Ein weiteres Problem, das die Verfügbarkeit der AKW beeinträchtigt, ist der Klimawandel, der die Wasserführung der Flüsse verändert. Weil sie während der langen Hitzewelle im letzten Sommer teilweise zum Rinnsal wurden, mussten einige Reaktoren ihre Leistung herunterfahren oder den Betrieb ganz einstellen, das zur Kühlung genutzte Wasser hätte sich sonst zu stark aufgeheizt.

Die französischen AKW sind nach Angaben der Regierung in Paris für zwölf Prozent des Wasserbrauchs im Lande verantwortlich, nur der Agrarsektor liegt noch davor. Und das Problem der Wasserverfügbarkeit wird zunehmen, erwarten Klimaforscher. Prognosen des Rechnungshofs in Paris besagen, dass die AKW-Stromproduktion im Jahr 2050 in heißen Zeiten dreimal so häufig wie heute gedrosselt werden muss.

AKW-Neubauten zu "extrem hohen" Kosten

Die ungeplanten Stillstände sowie die Reparaturen und Wartungen haben den staatlich dominierten Konzern EDF, der die AKW betreibt, weiter in Schieflage gebracht. Er ist inzwischen mit 64,5 Milliarden Euro verschuldet, obwohl die Regierung in Paris die Atomkraft kräftig subventioniert, laut einem EU-Bericht zwischen 2017 und 2020 mit bis zu zwei Milliarden Euro. Andere Schätzungen liegen noch deutlich höher.

Und die prekäre Lage dürfte die französischen Strompreise weiter treiben, so für den nächsten Winter. An der europäischen Strombörse EEX liegen die Kontrakte für das erste Quartal 2024 doppelt so hoch wie in Deutschland.

Trotz dieser Probleme setzt die Regierung Macron weiter auf Atomkraft. Sie will in den 2030er Jahren sechs neue große AKW bauen lassen, zudem steckt sie eine Milliarde Euro in die Entwicklung neuer Klein-Reaktoren.

Dabei sind die Kosten des einzigen Reaktor-Neubaus der letzten Jahrzehnte in Frankreich, der EPR-Anlage in Flamanville in der Normandie, von geplanten 3,4 Milliarden Euro auf über 20 Milliarden explodiert, ebenso die Bauzeit von fünf auf über 16 Jahre. Der EPR soll nun statt 2007 Anfang 2024 an Netz gehen.

Der Stromkonzern EDF rechnet für die neuen sechs Reaktoren mit "Investitionen in extremer Höhe", wofür die Finanzierung durch Privatinvestoren trotz der von Frankreich durchgedrückten "grünen" Bewertung der Atomkraft in der EU-Taxonomie schwierig werden dürfte.

Die Regierung in Paris hat daher angekündigt, Geld von dem bei den Franzosen beliebten staatlichen Sparbuch "Livret A" in die AKW-Projekte zu leiten. Bisher dient es vor allem dazu, Sozialwohnungen zu bauen.

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