Im deutschen Stromsystem werden die regionalen Ungleichgewichte zunehmend spürbar und in politische Diskussionen getragen. So haben sich vor einigen Tagen sechs Ministerpräsidentinnen und -präsidenten dafür eingesetzt, die einheitliche deutsche Strompreiszone zu erhalten. Sie stehen den südlichen und westlichen Ländern Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Saarland vor.

Bei einer Aufteilung in mehrere Preiszonen halten sie es zwar für möglich, dass die Börsenstrompreise in einer neuen Gebotszone sinken. Dem stünden aber höhere Börsenstrompreise für die Stromverbraucher in anderen Gebotszonen gegenüber, schrieben die sechs Länderchefs in einer gemeinsamen Erklärung. Sie befürchten, dass ihre industriellen Zentren damit strukturell benachteiligt werden könnten.

 

Eine solche strukturelle Benachteiligung für Wirtschaft und Bevölkerung durch hohe Strompreise sehen die Nordländer Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen allerdings heute schon für ihre Wirtschaft und Bevölkerung.

Als Ursache dafür betrachten sie gerade die einheitliche deutsche Strompreiszone, die nun von den Süd- und Westländern verteidigt wird. Die Nordländer hatten sich zuletzt im September 2022 öffentlich dafür eingesetzt, mehrere regionale Gebotszonen für den Strombörsen-Großhandel zu schaffen.

Auf die regionalen Ungleichgewichte im bestehenden Strompreis-System wies nun noch einmal Manuela Schwesig hin, Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern: "Wir hier im Norden produzieren die grüne Energie, zum Beispiel aus großen Windparks, schicken sie in den Süden, und dort sind die niedrigen Strompreise. Und bei uns – wo die Belastung ist – da zahlen die Bürgerinnen und Bürger die höchsten Strompreise."

Wie der NDR weiter berichtete, fallen die Netzentgelte in Mecklenburg-Vorpommern knapp 50 Prozent höher aus als in Bayern. So werden in MV bei einem jährlichen Stromverbrauch von 4.000 Kilowattstunden 479 Euro für Netzentgelte fällig, in Bayern sind es nur 321 Euro.

Ungleich verteilte Belastungen

Der Hintergrund für diese öffentlichen Diskussionen sind grundlegende Entwicklungen im deutschen Stromsystem, die zunehmend zu Widersprüchen, steigenden Kosten und ungleich verteilten Belastungen führen. Der Reformbedarf wächst.

In den vergangenen Jahren hat sich in diesem System ein deutliches geografisches Ungleichgewicht bei Produktion, Verbrauch und Preisen entwickelt. Im Norden und Osten sind besonders viele Solar- und Windparks installiert worden, die bei günstigem Wetter sehr viel Strom produzieren können. Gleichzeitig ist hier der Stromverbrauch vergleichsweise gering, weil diese Regionen relativ dünn besiedelt sind und nicht über besonders viele große industrielle Stromverbraucher verfügen.

Damit der Strom aus den vielen Solar- und Windparks abtransportiert werden kann, müssen die Netze hier besonders stark ausgebaut werden. Die Kosten dafür werden auf die regionalen Netzentgelte umgelegt, die in die regionalen Strompreise eingehen und sie besonders kräftig steigen lassen.

Der Ausbau der Windenergie läuft in Baden-Württemberg nach wie vor schleppend. (Bild: Marco Verch/​Flickr, CC BY 2.0)

Vor allem in Süddeutschland ist es eher umgekehrt: Baden-Württemberg und Bayern sind dicht besiedelt und beheimaten viele große industrielle Stromverbraucher. Auf der anderen Seite ist die Stromproduktion hier begrenzt: Besonders die Windkraft wurde in den vergangenen Jahren nur sehr wenig ausgebaut, und einige Atomkraftwerke gingen vom Netz.

Die Stromüberschüsse aus dem Norden und Osten können allerdings nur begrenzt in die südlichen Verbrauchszentren transportiert werden. Die Ursache dafür sind Engpässe im überregionalen Strom-Übertragungsnetz, die durch den Bau neuer Höchstspannungs-Leitungen nur sehr langfristig, mit großem Aufwand und gegen Widerstände der Anwohner behoben werden können.

In einer Marktwirtschaft bewirkt ein hohes Angebot bei geringer Nachfrage normalerweise, dass Preise sinken. Demnach könnten die Stromüberschüsse im Norden und Osten zu vergleichsweise niedrigen Preisen im Strom-Großhandel führen. Das würde es begünstigen, den regional reichlich erzeugten Strom auch regional zu nutzen.

Umgekehrt bewirkt ein begrenztes Angebot bei hoher Nachfrage eigentlich, dass Preise steigen. Also könnte der Strommangel im Süden zu vergleichsweise hohen Preisen im Strom-Großhandel führen. Das würde Anreize dafür bieten, Strom sparsam einzusetzen und mehr Solar- und Windparks zu bauen.

Virtueller Stromtransport

Doch dieser marktwirtschaftliche Mechanismus kann im Strombörsen-Großhandel bisher nicht wirken. Denn die tatsächlich bestehenden Transportengpässe werden hier nicht berücksichtigt: Deutschland und Luxemburg bilden eine gemeinsame Preiszone, in der Strom ohne Beschränkungen gekauft und verkauft werden kann.

Um diesen unbeschränkt gehandelten Strom dann über die tatsächlichen Engpässe hinweg ausliefern zu können, greifen die Übertragungsnetz-Betreiber 50 Hertz, Amprion, Tennet und Transnet BW zum Kunstgriff eines virtuellen Stromtransports.

Bei diesem "Redispatch" regeln sogenannte Markt- und Reservekraftwerke, die sich vor einem Leitungsengpass in der Stromüberschuss-Region befinden, ihre Produktion herunter. Gleichzeitig fahren andere Markt- und Reservekraftwerke, die sich hinter dem Engpass in der Strommangel-Region befinden, ihre Stromproduktion hoch. So wird der Leitungsengpass künstlich überbrückt.

 

Die beteiligten Kraftwerksbetreiber werden von den Übertragungsnetzbetreibern für ihren Aufwand und entgangene Erlöse entschädigt. Unterstützt wird der Redispatch außerdem durch weitere, ähnlich wirkende Instrumente im Strom-Großhandel und bei der Abregelung von Kraftwerken.

Die Bundesnetzagentur fasst diese Maßnahmen unter dem Sammelbegriff "Netzengpassmanagement" zusammen. Die Kosten dafür stiegen bis zum Jahr 2021 auf den neuen Rekord von 2,3 Milliarden Euro.

Für das vergangene Jahr 2022 ist wohl eine weitere deutliche Kostensteigerung zu erwarten. Allein im ersten Halbjahr 2022, für das bisher vorläufige Zahlen vorliegen, sind Kosten für das Netzengpassmanagement von 2,2 Milliarden Euro angefallen. Diese Kosten werden bundesweit auf die Strom-Netzentgelte umgelegt, die in den Strompreis der Endkunden eingehen. Damit haben sie einen überregionalen Einfluss auf steigende Strompreise.

Für die nord- und ostdeutschen Stromkunden bedeutet das: Sie tragen zwar mit ihren hohen regionalen Netzentgelten dazu bei, dass viel Solar- und Windstrom erzeugt werden kann und so bundesweit die Großhandelspreise gedämpft werden. Doch einen Ausgleich für diese Belastung erhalten sie bisher nicht. Außerdem bezahlen sie auch noch die bundesweit anfallenden Kosten für das Netzengpassmanagement mit, das den virtuellen Stromtransport in den Süden ermöglicht.

Skandinavische Praxis

Regionale Ungleichgewichte bei Stromverbrauch und Stromproduktion, die mit Netzengpässen verbunden sind, gibt es auch in anderen Ländern. In Skandinavien sind deshalb schon vor vielen Jahren regionale Strompreis-Zonen eingeführt worden.

In Preiszonen, in denen ein hoher Stromverbrauch einem geringen Stromangebot gegenübersteht, ermittelt die skandinavische Strombörse Nord Pool Spot eher hohe Großhandelspreise. In Preiszonen, in denen viel Strom produziert, aber wenig verbraucht wird, entstehen tendenziell niedrige Großhandelspreise.

Ein ähnliches Strommarkt-Design gibt es inzwischen auch in Italien. In Deutschland gilt die einheitliche Preiszone dagegen als ein sensibles politisches Gut, das die damalige Bundesregierung aus CDU/​CSU und SPD im Jahr 2017 in der Stromnetz-Zugangsverordnung festgeschrieben und in ihren nächsten Koalitionsvertrag aufgenommen hatte.

Dagegen sind die Europäische Kommission und die europäische Energie-Regulierungsagentur ACER der Ansicht, dass regionale Preiszonen ein gutes Mittel gegen Stromtransport-Engpässe sind.

Im August 2022 hatte die ACER deshalb für Deutschland vier mögliche Reformvarianten vorgeschlagen, die zwei bis vier Preiszonen umfassen. Der Agentur zufolge haben die Übertragungsnetzbetreiber nun zwölf Monate Zeit – also bis zum kommenden August –, eine Empfehlung dazu vorzulegen.

Erst einmal die Netzentgelte

Die aktuelle deutsche Regierungskoalition sieht bisher keinen dringenden Grund, die einheitliche Strompreiszone aufzuteilen. Das Problem der hohen Netzentgelte in den nördlichen und östlichen Ländern wollen sich SPD, Grüne und FDP dagegen schon bald vornehmen.

In ihrem Koalitionsvertrag heißt es: "Wir treiben eine Reform der Netzentgelte voran, die die Transparenz stärkt, die Transformation zur Klimaneutralität fördert und die Kosten der Integration der erneuerbaren Energien fair verteilt."

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