Blick auf das Rohrgewirr einer Gas-Verdichterstation
Zur aufwendigen Gasinfrastruktur gehören – egal, ob fossiles oder "grünes" Gas – große Verdichterstationen, die sich ihre Energie meist aus dem Gas abzweigen, das sie durch die Leitungen jagen. (Foto: Open Grid Europe)

Heiß wird hierzulande darum gestritten, ob sich Europa und vor allem Deutschland darauf einlassen sollen, die Pipeline Nord Stream 2 bauen zu lassen und sich für weitere Jahrzehnte von russischem Erdgas abhängig zu machen. Aus Klimasicht gilt fossiles Erdgas als eine nicht allzu weit tragende "Brücke", weil es zwar weniger Treibhausgase verursacht als Kohle und Öl, aber viel mehr als die Erneuerbaren.

Mittelfristig gilt es also, auch die Gaswirtschaft zu dekarbonisieren – und was wäre da besser, als aus Wasser mit Ökostrom weitgehend klimaneutral jede Menge Wasserstoff und Methan herzustellen. In Szenarien, die sich Deutschland 2040 oder 2050 als vorbildliche Klima-Nation vorstellen, wimmelt es denn auch von sogenannten Power-to-Gas-Anlagen, die "grünes" Gas zum Heizen, als Chemierohstoff oder zum (Energie-)Speichern herstellen, wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint.

Der traditionellen Gasbranche reicht das offenbar noch nicht. Für eine sichere Versorgung würden künftig auch Gaskraftwerke sorgen – heute mit Erdgas, künftig mit grünen Gasen betrieben, teilte der Lobbyverband "Zukunft Erdgas" Ende Juni zum Thema "Green Gas for Germany" mit.

Der im ellenlangen Pressetext versteckte Clou: Spätestens seit der Veröffentlichung der Dena-Leitstudie wisse man, dass nur "etwa die Hälfte" der 2050 benötigten Menge an erneuerbaren Gasen in Deutschland selbst erzeugt werde. "Der Rest wird durch Importe aus dem Ausland abgedeckt", ließ sich Zukunft-Erdgas-Vorstand Timm Kehler zitieren.

Dass die Hälfte des grünen Gases importiert werden muss, hat die Branche, wie sie einräumt, nicht selbst ausgerechnet. Sie bezieht sich auch dabei auf die Ende Mai veröffentlichte Dena-Leitstudie. Diese beschreibt in verschiedenen Szenarien – einmal vor allem strombasiert und einmal in einem "Technologiemix" –, wie bis 2050 die deutschen CO2-Emissionen um 80 beziehungsweise 95 Prozent reduziert werden können.

Bei 95-prozentiger CO2-Reduktion gehen erneuerbare Gase durch die Decke

Die Ergebnisse sind, was das "grüne" Gas betrifft, ziemlich ernüchternd. Nur wenn Deutschland sich in erster Linie per Ökostrom klimaneutral umgestaltet und sich zudem mit einer 80-prozentigen CO2-Reduktion "begnügt", kann der "überwiegende" Teil des nötigen, per Power-to-Gas erzeugten "grünen" Gases aus dem Land selbst kommen und nur ein kleinerer Teil aus dem europäischen Ausland.

Beim "Mix"-Szenario und 80-prozentiger CO2-Reduktion behalten dagegen fossiles Erdgas und Erdöl noch bedeutende Marktanteile und "nur" die Hälfte des benötigten "grünen" Gases würde importiert. Das Szenario macht sich auch der Lobbyverband zu eigen.

Sobald aber das 95-Prozent-Ziel ins Spiel kommt – und zu dem gibt es, will man das Pariser 1,5-Grad-Ziel einhalten, auch keine Alternative –, dann gehen in den Szenarien die Power-to-Gas-Kapazitäten und zugleich der Gas-Import durch die Decke.

Bei 95-prozentiger CO2-Einsparung kommen drei Viertel bis vier Fünftel des "grünen" Gases, das Deutschland für eine klimaneutrale Entwicklung braucht, aus dem EU-Ausland oder von noch weiter her. Erwartet wird ein Gas-Import von umgerechnet bis zu 908 "grünen" Terawattstunden. Zum Vergleich: Derzeit bezieht Deutschland jährlich für etwa 1.400 Terawattstunden fossiles Erdgas aus dem Ausland.

Welche Länder aber sollen sich hergeben, um "grünes" Gas in diesen rauen Mengen herzustellen und hernach an Deutschland zu liefern? Der Lobbyverband hält sich da bedeckt und spricht nur vom "Nicht-EU-Ausland", bei dem es sich um Länder handele, in denen "günstigere" Bedingungen für Sonnen- und Windenergie herrschten. Angesichts des hiesigen Sommers könnte man sich fragen, wo es überhaupt noch "günstigere" Bedingungen gibt.

Aber Scherz beiseite. Die Dena-Leitstudie wird schon etwas konkreter: "Das Gros der Nachfrage nach synthetischen Energieträgern in 2050 in Deutschland wird nach heutiger Einschätzung aus Regionen wie Nordafrika importiert, da dort die Produktionskosten inklusive Transport günstiger sind und im Vergleich zu Deutschland größere Flächenpotenziale bestehen."

Die Dena hält solche grünen Energieimporte für unausweichlich. Eine völlige Energieautarkie Deutschlands oder Europas sollte aus Gründen der Wirtschaftlichkeit und Versorgungssicherheit nicht angestrebt werden, heißt es bei der bundeseigenen Agentur.

Rechnen sollen sich die künftigen Investitionen in "grünes" Gas laut dem Gasverband dann, wenn die zu erzielenden CO2-Einsparungen einen Preis bekommen. Allerdings ist der CO2-Preis, ab dem "grünes" billiger als fossiles Erdgas wird, ziemlich hoch. Nach Angaben der Beratungsfirma Energy Brainpool müsste der Preis für eine Tonne CO2 auf über 100 Euro steigen, um fossiles Erdgas über die Grenze von vier Cent je Kilowattstunde zu treiben. Parallel könnte längerfristig der Preis für "grünes" Gas auf drei oder sogar unter drei Cent fallen – das gilt allerdings fürs Inland.

Wie das bei Import-Gas zum Beispiel aus Nordafrika aussieht, kann noch niemand sagen. Auch die Kosten zum Aufbau der nötigen Infrastruktur und der zusätzliche Aufwand, wenn unter anderem die Gastanker – angetrieben von "grünem" Gas natürlich – tausende Kilometer über die Meere fahren, stehen in den Sternen.

Allerdings, frohlockt die Branche, "schreiten bereits heute einige Akteure mit größeren Projektvorhaben voran". Ein Beispiel seien Open Grid Europe und Amprion, die gemeinsam eine Power-to-Gas Anlage von 50 bis 100 Megawatt errichten wollen. Im EU-Ausland oder in Nordafrika? Nein: In Niedersachsen und im nördlichen Nordrhein-Westfalen gebe es "potenzielle Standorte".

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