Straßenschild zum Richtungswechsel
Den Kurs ändern, um nicht vor die Wand zu fahren. (Foto: Wolfgang Eckert/​Pixabay)

Klimareporter°: Herr Ott, die Politik versagt beim Umwelt- und Klimaschutz, dafür springen Gerichte ein. Fahrverbote wegen Dieselgate, Rodungsstopp im Hambacher Forst, Nitratbelastung des Grundwassers – überall geben Richter neuerdings die Linie vor. Wie kommt das?

Hermann Ott: Das liegt vor allem daran, dass die Politik ihre ureigenste Aufgabe nicht ausreichend wahrnimmt, nämlich die Interessen der Bürgerinnen und Bürger zu vertreten. Sie schützt die Menschen weder vor den giftigen Stickoxiden noch vor den Gefahren des Klimawandels und lässt sie auch mit den Sorgen um Vogel- und Insektensterben alleine.

Bisher hat man den Unterschied zwischen Europa und den USA, wo ja die Justiz schon sehr lang eine eminent wichtige Rolle spielt, immer so begründet: In Europa gilt das Vorsorgeprinzip, das heißt, es werden Gesetze erlassen, die eine Gefahr erst gar nicht entstehen lassen.

In den USA dagegen müssen die Menschen vor Gericht gehen, wenn sie Schaden erleiden – dann wird ihnen ein so horrender Schadenersatz zugesprochen, dass Staat und Unternehmen alles tun, um dies zu vermeiden – ein nachsorgender Schutz sozusagen.

Wir sehen aber, dass in sehr vielen Bereichen die Bundesregierung eben keine vorsorgeorientierte Politik mehr macht – deshalb wenden sich die Leute an die Gerichte, um ihren Schutz zu erzwingen.

Seit wann gibt es diese Verschiebung von der Politik zur Justiz?

Die gibt es schon recht lange. Die Häufung von Klagen für den Umweltschutz in den letzten Jahren ist jedoch vor allem der internationalen Aarhus-Konvention zu verdanken. Seit etwas mehr als zehn Jahren gibt es für Umweltverbände die Möglichkeit, von der Verwaltung nicht nur Informationen über umweltrelevante Vorhaben zu verlangen und bei Entscheidungen dabei zu sein, sondern gegen Rechtsverstöße in letzter Instanz auch gerichtlich vorzugehen.

Hermann Ott
Foto: Lisa Bauch

Zur Person

Hermann Ott baut für die gemein­nützige Umwelt­rechts­organisation Client Earth ein Büro in Deutschland auf. Die "Anwälte der Erde" haben sich zum Ziel gesetzt, mithilfe des Rechts Mensch und Umwelt zu schützen. Gegründet wurde Client Earth 2007 in London. Der promovierte Jurist Ott war vorher Wissenschaftler am Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt, Energie, außerdem Bundes­tags­abgeordneter der Grünen. Er hat eine Honorar­professur an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung in Eberswalde bei Berlin inne.

Das ist ein großer Fortschritt, der vielen Menschen gar nicht bewusst ist. Die Verbände können jetzt gegen die Verletzung von sogenanntem objektivem Recht vorgehen, nicht nur bei Verletzung ihrer eigenen, subjektiven Rechte – also Gesundheit, Leben, Eigentum –, wie das sonst im deutschen Recht der Fall ist.

Ist die Politik zu abhängig von den Auto-, Energie- und Agrarlobbys, um ihren Aufgaben nachzukommen? Attestieren Sie eine Krise der Demokratie?

Wer verfolgt, wie häufig politische Entscheidungen für die Interessen der Auto-, Energie- oder Chemieindustrie getroffen werden, kommt um diesen Eindruck nicht herum.

Nun ist das kein neues Phänomen. Aber neu ist, dass viele Menschen sich das nicht mehr gefallen lassen und ihre Rechte, die Rechte der Natur und der zukünftigen Generationen einfordern. Das ist ein Gewinn für die Demokratie und übrigens auch für unseren Rechtsstaat.

Denn die Zivilgesellschaft zeigt durch die Gerichtsverfahren, dass sie diesen Begriff ernst nimmt und ihn mit Leben füllt. Die "Klagen im öffentlichen Interesse" sind mit das Beste, was unserer Demokratie passieren kann.

Sie bauen für die internationale Umweltrechts-Organisation Client Earth, die in London gegründet wurde, eine Dependance in Deutschland auf. Ist es hier denn besonders nötig?

Wir haben bereits Büros in Brüssel, Warschau, Peking und New York. Doch Deutschland ist natürlich der wichtigste Akteur in Europa, und wenn die Regierung hier ausfällt, hat das enorme Wirkungen in der ganzen EU und weltweit.

Deshalb wollen wir als Anwälte der Erde versuchen, der deutschen Politik beim Natur-, Umwelt- und Klimaschutz wieder etwas mehr Schwung zu geben – und dies notfalls durch Gerichte erzwingen.

Im Fall der Diesel-Fahrverbote müssen die Autobesitzer aufgrund der Gerichtsurteile ausbaden, dass die Politiker sich nicht getraut haben, die Autokonzerne zur Katalysator-Nachrüstung zu verpflichten. Halten Sie das für ein gutes Ergebnis?

Nein, natürlich nicht. Die Käufer sind von den Autokonzernen an der Nase herumgeführt worden, und die Bundesregierungen der letzten zehn Jahre haben denen das durchgehen lassen. Nicht mal die Forderung der Städte nach Einführung einer blauen Plakette ist erfüllt worden – damit könnte man nämlich die schmutzigen Fahrzeuge schnell erkennen.

Nur durch die Gerichtsverfahren und die drohenden Fahrverbote sind Regierung und Konzerne unter Druck gekommen. Aber auch der letzte sogenannte "Diesel-Gipfel" hat gezeigt, dass der Ernst der Lage noch nicht erkannt worden ist – es gibt immer noch keine Nachrüstung mit Partikelfiltern auf Kosten der Hersteller. Dazu muss der Druck wohl erst noch steigen, was bei Fahrverboten unweigerlich der Fall sein wird.

Auch beim Hambacher Forst könnte der Rodungsstopp ein Pyrrhus-Sieg sein. Wenn das Gericht im Hauptverfahren feststellt, dass der Stromkonzern RWE mit seinen Plänen im Recht ist – gibt es dann überhaupt noch ein Chance für den schnellen Kohleausstieg?

Zunächst mal ist es ein Erfolg, dass diese unsinnige Rodungsaktion gestoppt worden ist. Das Gericht hat damit überhaupt erst den Raum geschaffen, eine politische Lösung für den Kohleausstieg zu finden. Hier ist erst einmal die Kohlekommission am Zug, dann die Bundesregierung. Die klimaschädlichsten Kraftwerke werden schnell vom Netz gehen müssen und für die Erweiterung des Tagebaus Hambach wird es dann keinen Grund mehr geben.

In den Niederlanden hat ein hohes Gericht vorige Woche die Regierung darauf festgelegt, ihr Klimaschutz-Ziel für 2020 zu erhöhen – von 17 auf mindestens 25 Prozent CO2-Einsparung gegenüber 1990. Könnte das in Deutschland Schule machen? Die Bundesregierung hat eingeräumt, dass sie sogar ihr selbstgesetztes CO2-Ziel für 2020 deutlich verfehlen wird.

Ja, wenn die Bundesregierung keine vernünftigen Maßnahmen für den Kohleausstieg beschließt – dann ist dies ein Fall für die Gerichte.