Zu Halloween begann das Gruseln: Alles startete im vergangenen Jahr, am 31. Oktober um fünf nach zwölf. Nach der formellen Erklärung des "Aufstands gegen die Ausrottung" – respektive der "Extinction Rebellion" (XR) – vor dem britischen Parlament besetzten die selbsternannten Rebellen die Straße. 15 Menschen wurden verhaftet. Anschließend folgten im Wochentakt ähnliche Aktionen gegen den Tod durch den Klimawandel.
Im November 2018 besetzten dann rund 6.000 Menschen die fünf wichtigsten Brücken Londons für mehrere Stunden. Es gab 70 Verhaftungen. Die britische Zeitung The Guardian beschrieb die Besetzungen als "eine der größten Aktionen von friedlichem, zivilem Ungehorsam in Jahrzehnten". Dabei war das nur ein Probelauf gewesen.
Und nur ums Gruseln ging es freilich nicht. Nach fast zwei Wochen spektakulärer Proteste von "Extinction Rebellion" in London ist in der Nacht zum heutigen Freitag ein Graffito aufgetaucht, das dem Künstler Banksy zugeschrieben wird. "Von diesem Moment an endet die Verzweiflung und die Taktik beginnt", steht da in englischer Sprache nahe dem Monument Marble Arch im Herzen der britischen Hauptstadt.
Das ist treffend, wenn man die Entstehung der Proteste betrachtet. "Diese Bewegung beruht auf Forschung", sagt der XR-Mitbegründer Roger Hallam, der am Londoner King’s College für seine Promotion das "effektive Design von radikalen Kampagnen" erforscht. Auf der Video-Plattform Youtube erklärt er, was hinter "Extinction Rebellion" steckt.
Ausgangspunkt ist der Gedanke: Trotz jahrzehntelanger Bemühungen der großen Umweltorganisationen steigen die Treibhausgasemissionen und damit die Temperaturen, und die Zahl der Tiere und Arten auf der Erde sinkt. "Extinction Rebellion ist die Folge von 30 Jahren Demonstrationen und Petitionen, die umsonst waren", meint Hallam.
"Das ist das Ende – außer wir tun selbst etwas"
Zwar wirkt die Politik geschäftig: Gesetze werden erlassen, Grenzwerte verschärft und internationale Abkommen ausgehandelt. Doch gleichzeitig verschlechtert sich der Zustand der Umwelt immer weiter. Dem will XR nicht mehr zuschauen. "Die Leute haben plötzlich begriffen: Die Lösung wird nicht kommen. Wir werden alle sterben. Das ist das Ende – außer wir tun selbst etwas", analysiert der Politikwissenschaftler im Video.
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Wer außerparlamentarischen Druck auf eine Regierung ausüben will, hat drei Möglichkeiten: Neben herkömmlichen Kampagnen etwa der Umweltverbände bleiben noch der Einsatz von Gewalt und der massenhafte zivile Ungehorsam.
Gegen Gewalt sprechen offensichtliche ethische Probleme, der friedliche Ungehorsam erscheint aber auch als die effektivere Alternative: 54 Prozent der gewaltfreien Aufstände erreichten ihr Ziel, aber nur 25 Prozent der Aufstände mit Gewalteinsatz, hat Hallams Forschung ergeben.
Auf dieser Grundlage entwickelte Hallam ein "Modell des zivilen Widerstands". Für den Erfolg sind demnach fünf Schlüsselelemente erforderlich.
- Tausende von Menschen sind bereit, für den Protest und die Sache ins Gefängnis zu gehen – so demonstrieren sie wirksam den Ernst der Lage.
- Die Proteste konzentrieren sich auf die Hauptstadt eines Landes, wo zumeist auch die Regierung sitzt.
- Die Aktivisten brechen kollektiv das Gesetz, denn das stellt die Regierung vor ein Dilemma, bei dem der Protest nur gewinnen kann: Entweder sie tut nichts und bestätigt damit den Protest. Oder sie geht mit Gewalt oder Verhaftungen dagegen vor – und erzeugt automatisch eine enorme Aufmerksamkeit.
- Die Aktionen müssen Tage oder gar Wochen dauern. Als Vergleich eignet sich ein Streik: Wenn die Belegschaft einen Tag lang streikt, zuckt das Management der Firma mit den Schultern. Zieht sich der Streik aber länger hin, wird sich das Management auf Verhandlungen einlassen, bevor die Firma pleitegeht.
- Das Ganze muss Spaß machen, um lange genug zu funktionieren.
Das Ziel ist, die Regierung zu Verhandlungen zu zwingen. Um das zu erreichen, seien aber Verhaftungen in einer Zahl "irgendwo in den Tausenden" erforderlich, schätzt Hallam. Dabei setzt er auch auf die Polizei: "Die Polizei wird zur Regierung gehen und sagen: 'Wir machen das nicht mehr mit. Wir sind nicht dafür da, 80-jährige Omas und vierjährige Kinder zu verhaften. Es muss eine politische Lösung geben.'"
Was Extinction Rebellion erreichen will
Wenn das Ziel von Verhandlungen mit der Regierung erreicht ist, ist laut Hallam ein weiterer Punkt entscheidend: "Man muss einen Plan haben." Im Fall von XR besteht er aus drei Forderungen: Die erste ist, die Wahrheit über den Zustand des Klimas und der Umwelt zu sagen und einen Notstand auszurufen. Die zweite Forderung ist die Reduktion der CO2-Emissionen auf null bis 2025 und die dritte die Einberufung von Bürgerversammlungen, um zu entscheiden, wie dies bis 2025 geschehen soll.
Droht durch den Klimawandel wirklich der Tod?
"Extinction Rebellion" mag zu dramatischen Bildern und Worten greifen – im Kern haben die Aktivisten aber viele Wissenschaftler auf ihrer Seite. Der Klimaforscher Johan Rockström warnte etwa in einer Studie, es könnte einen Kipppunkt geben, ab dem sich die Klimaerwärmung selbst verstärkt. Die Konsequenzen der daraus resultierenden "Heißzeit" wären katastrophal: "Eine Heißzeit birgt letztlich ein großes Risiko für die Bewohnbarkeit des Planeten für Menschen."
Die Flora und Fauna verschwinden derweil auch schon ohne Heißzeit. Die Erde erlebt derzeit das sechste Massenaussterben von Arten. Das beunruhigt auch die Chefin der UN-Konvention für Biodiversität, Cristiana Palmer: "Die Zahlen sind erschütternd. Ich hoffe wir sind nicht die erste Art, die ihr eigenes Aussterben dokumentiert."
Dabei ist die letzte Forderung die radikalste. Aus Sicht von XR haben der Parlamentarismus und die Parteiendemokratie beim Klima- und Umweltschutz versagt. Daher sollen zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger in Versammlungen darüber debattieren und entscheiden, wie es weitergehen soll.
Dazu gehört auch der Zeitraum, bis wann null Emissionen erreicht werden sollen. Das Stichjahr 2025, das in der zweiten Forderung genannt wird, ist wohl eher als Richtwert zu verstehen.
Sollten Regierung und Parlament den Bürgerversammlungen zustimmen, würden sie sich bis zu einem gewissen Grad selbst entmachten. Solche Versammlungen haben sich jedoch in Irland bewährt. Auf diese Weise wurde entschieden, eine Volksabstimmung über das Verbot von Abtreibungen durchzuführen. Das Verbot wurde dann mit großer Mehrheit abgeschafft.
Eine andere Bürgerversammlung beschloss, dass die irische Regierung beim Klimaschutz deutlich ehrgeiziger werden muss. Auf kommunaler Ebene wurde das Verfahren auch in Deutschland schon ausprobiert, etwa um Windkraft-Konflikte zu lösen – mit Erfolg.
Hallam ist sich sicher, dass Bürgerversammlungen auch in Großbritannien funktionieren würden: "Ganz normale Leute müssen darüber entscheiden, ob sie leben oder sterben wollen. Wenn sie sterben wollen, ist das okay. Aber man kann voraussagen, dass die Leute nicht wollen, dass ihre Kinder sterben."
Folgt aus dem Klimawandel ein "Recht auf Rebellion"?
Noch ist es aber lange nicht so weit. Derzeit arbeitet XR noch daran, den öffentlichen Diskurs und damit die Wahrnehmung der Klima- und Umweltkrise zu verändern. Ziel ist die Verschiebung des sogenannten Overton-Fensters. Das definiert, was gemäß der öffentlichen Moral eine akzeptable Äußerung ist und was als unsagbar oder radikal gilt.
Derzeit umfasst das Overton-Fenster in der Klimadebatte Themen wie Arbeitsplätze in der Autoindustrie oder Strukturbrüche in den Kohleregionen. Aus Sicht der "Rebellen gegen die Ausrottung" ist die Klimakrise in "Wahrheit" aber eine Frage von Leben und Tod – selbst für die Menschheit als Ganzes (siehe Kasten oben).
XR stellt den Klimawandel aber nicht nur deshalb als Gefahr für das Leben von Millionen Menschen und für die ganze Zivilisation dar, um das Overton-Fenster zu verschieben. Damit entsteht auch die Voraussetzung für das "Recht auf Revolution" (siehe Kasten unten).
Aber was ist mit den Menschen, deren Leben durch den zivilen Ungehorsam beeinträchtigt wird? Hallam sagt dazu: "Die Öffentlichkeit ist kein unschuldiger Zuschauer. Sie hat Verpflichtungen und es ist gerechtfertigt, die Öffentlichkeit zu beeinträchtigen, wenn diese ihrer sozialen Verpflichtung nicht nachkommt, die Kontinuität der Gesellschaft sicherzustellen."
Woher kommt das "Recht auf Revolution"?
Das "Recht auf Revolution" gilt als Teil des Naturrechts. Was dahinter steckt, hat der britische Philosoph und Vordenker der Aufklärung John Locke genauer definiert. Dieser schrieb in den 1689 erschienenen "Zwei Abhandlungen über die Regierung":
"Wenn die Legislative versucht, die absolute Macht über Leben, Freiheiten und Vermögen der Menschen selbst an sich zu reißen oder in die Hände anderer zu legen, verwirkt sie durch diesen Vertrauensbruch die Macht, die die Menschen ihr zu ganz anderen Zwecken verliehen hatten, und diese fällt an die Menschen zurück."
Man könnte argumentieren, dass die Regierungen diese Bedingung erfüllen, indem sie zulassen, dass das Ökosystem Erde und damit die Lebensgrundlage der Menschheit nachhaltig geschädigt wird.
Von diesem "Recht auf Revolution" hat XR in den letzten beiden Wochen ausgiebig Gebrauch gemacht. Letzte Woche Montag besetzten die Rebellen vier Knotenpunkte der britischen Hauptstadt: die Waterloo Bridge, Oxford Circle und die Plätze vor dem Parlament und dem Marble Arch. Letzterer Standort war der einzige legale.
Die Regierung reagierte darauf mit Repression: Sie verhaftete mehr als tausend Menschen, darunter Rentner, schwangere Frauen und Jugendliche. Londons Polizeichefin Cressida Dick sagte dazu: "Ich habe noch nie eine Polizeioperation gesehen, bei der mehr als 700 Menschen verhaftet wurden. Das zeigt, wie entschlossen wir sind."
Ironischerweise zeigt es allerdings auch, wie entschlossen die "Aufständischen" sind. Diese gehen bislang allerdings noch ein relativ geringes Risiko ein. Die meisten Verhafteten wurden umgehend wieder freigelassen. Der erste, der mittlerweile bestraft wurde, musste ein Bußgeld von 105 Pfund zahlen, weil es sich um die zweite Verhaftung handelte.
Richterin Devinder Sandhu sagte bei der Urteilsverkündung: "Dieses Land hat eine lange Tradition des Respekts für das Recht der Menschen zu protestieren, aber wenn das in den Bereich des Strafrechts übergeht, dann müssen die Gerichte handeln." Angesichts der möglichen Höchststrafe von 1.000 Pfund klang das jedoch fast schon wie eine Entschuldigung dafür, dass der "Täter" bestraft wurde.
Auf Milde der Richter können die vielen Verhafteten nicht nur wegen eines generellen Rechts auf Protest hoffen, sondern noch aus einem anderen Grund: Bislang zeichnet sich die "Rebellion" dadurch aus, dass die Demonstranten den Polizisten stets freundlich und respektvoll begegnen.
Eine "Rebellin" formulierte das so: "Die Polizei ist nicht unser Gegner. Wir laden sie ein, an einer weltweiten Volkserhebung teilzunehmen." Diese Einladung besteht unter anderem darin, sich anzuketten oder mit Sekundenkleber festzukleben. Aber wenn die Polizisten dann einen Demonstranten nach dem anderen mühselig befreien, um ihn festzunehmen, leistet niemand aktiv Widerstand.
Nach und nach gelang es der Polizei in London, die drei illegalen Demonstrationszonen "zurückzuerobern". Am Sonntag hatte die Staatsgewalt die XR-Aktivisten schließlich an den Marble Arch zurückgedrängt. Dort wurde am Dienstag in einer "Rebellenversammlung" entschieden, die Demonstration am Donnerstagnachmittag zu beenden. Dabei war es XR wichtig zu betonen, dass der Rückzug "unter eigenen Bedingungen" erfolgte und nicht vom Staat erzwungen werden konnte.
Hunderttausend als "Rebellen" registriert
Die "Aufständischen" können mit ihrem bisherigen Erfolg durchaus zufrieden sein. Die Briten haben zwei Wochen lang nicht über den Brexit, sondern übers Klima diskutiert. Die mediale Aufmerksamkeit war riesig. Das brachte XR weiteren Zulauf.
Das Kernteam besteht nun aus rund 100 Voll- und Teilzeitkräften. Außerdem sind mittlerweile über hunderttausend Menschen als "Rebellen" registriert. Es gibt weltweit knapp 400 XR-Ortsgruppen von Pakistan über Ghana bis Chile. Auch in Deutschland haben in den vergangenen Wochen Ortsgruppen Aktionen organisiert.
In einer anderthalbstündigen Debatte im britischen Unterhaus sprachen sich die ersten Parlamentarier für die Ausrufung eines Klimanotstands aus. Der frühere Parteichef der Konservativen, William Hague, schrieb in einem Beitrag für die konservative britische Zeitung The Daily Telegraph: "Die Lösungen, die von den Demonstranten und den grünen Parteien rund um die Welt vorgeschlagen werden, mögen wenig durchdacht sein. Aber der Analyse ist schwer zu widersprechen."
Zudem deuten sich erste Verhandlungen an: Der britische Umweltminister Michael Gove hat angeboten, XR-Vertreter zu treffen, und das XR-Strategieteam berichtet von "lebhaften Kontakten über inoffizielle Kanäle".
Trotz des momentanen Rückzugs der "Aufständischen" sollte die britische Regierung aber nicht dem klimapolitischen Müßiggang verfallen. Eine Journalistin, die die Londoner XR-Büros besuchte, sah dort ein Flipchart mit möglichen Eskalationsstrategien. Ein Punkt lautete: "Massenhafter Hungerstreik?"
Und XR-Mitbegründerin Gail Bradbrook sagte der Journalistin: "Das ist eine Rebellion. Es ist okay, wenn die Leute ein bisschen Spaß haben wollen und ein bisschen tanzen, aber das ist keine Party. Wir wollen eine politische Krise auslösen."
Lesen Sie dazu unseren Kommentar: Das Recht auf Ungehorsam