Porträtaufnahme von Marcel Hänggi.
Marcel Hänggi: "Der Gletscherschwund ist das Mahnmal für die Klimakrise." (Foto: Screenshot/​Mut zur Nachhaltigkeit/​Umweltbundesamt Wien/​Youtube)

Es war nach der Pariser Klimakonferenz, als er die Seiten wechselte. Marcel Hänggi war 2015 als Journalist in die französische Hauptstadt gereist und kam, wie so viele, nach der Konferenz "beschwingt zurück", wie er heute erzählt. Dennoch – oder gerade deswegen – verspürte er in der Zeit danach zunehmend den Drang, sich persönlich zu verändern: "Ich hatte die Nase voll, nur noch zu schreiben, was man tun soll, ich wollte selbst etwas tun." Und so wandelte er sich schließlich vom Journalisten zum Aktivisten.

Als Schweizer hatte er, was sein neues Engagement betraf, einen unschätzbaren Vorteil: Im Musterland der Basisdemokratie können sich alle Bürger jederzeit in die Gesetzgebung einbringen. Man muss nur eine Volksinitiative starten, die bei einer ausreichenden Anzahl von Unterschriften in einer Volksabstimmung mündet.

Noch geprägt von den frischen Eindrücken aus Paris startete Hänggi daher die "Gletscher-Initiative". Der Name lag für ihn auf der Hand, schließlich sei der Gletscherschwund das "Mahnmal für die Klimakrise".

Im August vergangenen Jahres gründete der Zürcher zusammen mit rund 100 anderen Bürgern den Verein Klimaschutz Schweiz. Seit Mai sammelt dieser nun Unterschriften. 100.000 müssen binnen 18 Monaten zusammenkommen, was in diesem Fall wohl keine große Hürde ist: Knapp drei Monate nach dem Start liegen bereits 90.000 Signaturen vor.

Zwar braucht anschließend alles seine Zeit, weil Regierung und Parlament noch über die Volksinitiative beraten, um dann Gegenvorschläge oder Empfehlungen zu unterbreiten. So kommt es zumeist erst drei bis vier Jahre später zur Abstimmung. Doch nimmt das Volk die Initiative dann mehrheitlich an, schafft das Ergebnis andererseits eine unschlagbare Verbindlichkeit – weil ein Volksvotum eben nicht so leicht revidiert werden kann wie eine Parlamentsentscheidung nach einer Veränderung der Mehrheitsverhältnisse.

Die Gletscher-Initiative hat das Ziel, den Klimaschutz in der schweizerischen Verfassung zu verankern und die CO2-Emissionen im Land bis 2050 auf null zu senken. Passend dazu präsentierte Hänggi zum Start der Kampagne sein neues Buch: "Null Öl. Null Gas. Null Kohle."

Reichlich Unterstützer aus allen politischen Lagern

Ortstermin Anfang Mai in einer Buchhandlung in Basel, Greenpeace ist als Mitveranstalter im Boot: Hänggi schildert die Dramatik des Klimawandels, mahnt an, umzusteuern, wirbt für die Gletscher-Initiative. Er ist ein bodenständiger Mensch. "Ich halte Vorträge, Hühner und Schafe", sagt er augenzwinkernd.

Hänggi ist Historiker und Germanist und sattelt aktuell auf sein Studium noch die Ausbildung zum Gymnasiallehrer auf. So wird er im Geschichtsunterricht wohl bald auch auf die Chancen der direkten Demokratie in der Schweiz eingehen können.

In der Buchhandlung an diesem frühsommerlichen Abend fällt vor allem eines auf: Das Publikum hat sich gewandelt. Wohl auch beflügelt durch die Klimastreik-Bewegung sitzen inzwischen wieder viele junge Menschen im Zuhörerraum. Lange Zeit haben sie gefehlt, wenn es auf den Podien um Umweltthemen ging. Und so ist die Buchhandlung gut besucht bei dieser Lesung.

Zumal die Gletscher-Initiative positive Resonanz aus den unterschiedlichen politischen Lagern erhält: "Nicht nur von Linken, auch aus der Mitte und sogar aus dem rechten Spektrum kommt Unterstützung", sagt Hänggi, "das hatten wir so nicht erwartet".

Mancher Schweizer dürfte auch aufgrund ökonomischer Überlegungen den Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas propagieren. Schließlich geben die Eidgenossen im Jahr 16 Milliarden Franken für die fossilen Energien aus – Geld, das somit aus dem Land abfließt.

Natürlich steht auch die Branche der Erneuerbaren hinter Hänggis Initiative. "Das Abschmelzen der Gletscher ist ein Alarmsignal: Wenn wir nicht sofort Maßnahmen ergreifen, um die Klimaerwärmung zu stoppen, werden unsere Existenzgrundlagen irreversibel geschädigt" schreibt der Windverband Suisse Eole. "Konkrete Maßnahmen sind notwendig, um die CO2-Emissionen in der Schweiz zu senken", sagt Isabelle Chevalley, Präsidentin des Verbands und Unterstützerin der Gletscher-Initiative.

Verkehr vermeiden statt Antrieb auswechseln

Die Forderungen der Initiative sind unmissverständlich. Der entscheidende Artikel, der bei mehrheitlicher Zustimmung des Volkes Teil der Schweizer Verfassung würde, lautet: "Ab 2050 werden in der Schweiz keine fossilen Brenn- und Treibstoffe mehr in Verkehr gebracht. Ausnahmen sind zulässig für technisch nicht substituierbare Anwendungen, soweit sichere Treibhausgassenken im Inland die dadurch verursachte Wirkung auf das Klima dauerhaft ausgleichen."

Klimaschutz in der Schweiz

Die Schweiz will ihre Treibhausgasemissionen bis 2030 gegenüber 1990 um 50 Prozent senken. Das entschied sie im Vorfeld der Pariser Klimakonferenz. Allerdings will das Land zulassen, dass bis zu 20 Prozentpunkte aus Projekten im Ausland angerechnet werden können. Die heimische Reduktion könnte daher mit nur 30 Prozent eher spärlich ausfallen.

Aber selbst wenn man nur diese 30 Prozent im Blick hat, ist der Weg noch weit. Zwischen 1990 und 2017 hat die Schweiz ihren Ausstoß von Treibhausgasen lediglich um zwölf Prozent gesenkt. Die Entwicklung lief in den Sektoren sehr unterschiedlich. Im Verkehr lagen die Emissionen 2017 sogar um ein Prozent über dem Niveau von 1990, in den Sektoren Gebäude und Industrie konnten sie hingegen um 26 beziehungsweise 18 Prozent gesenkt werden.

Die in der Schweiz im Jahr 2017 in die Atmosphäre ausgestoßene Menge an Treibhausgasen betrug 47,2 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent (ohne den internationalen Flug- und Schiffsverkehr). Das entspricht 5,6 Tonnen pro Kopf.

Die Schweiz weist zusätzlich auch die durch Importgüter im Ausland verursachten Emissionen aus und kommt dann in der Summe auf einen Pro-Kopf-Wert von 14 Tonnen.

Im Mai 2017 wurde die Energiestrategie 2050 in einer nationalen Volksabstimmung angenommen. Die Strategie ist weniger eine Zielvorgabe als vielmehr ein Maßnahmenpaket für mehr Energieeffizienz, die Senkung von CO2-Emissionen und die Förderung erneuerbarer Energien. (bj)

Als Artikel 74a soll dieser Absatz künftig geführt werden. Es wäre, sagt Hänggi, "ein unmissverständliches Signal an alle Investoren".

Definiert wären damit allerdings nur die Ziele – über die Instrumente müssten Politik und Gesellschaft anschließend erst noch beraten. Hänggi selbst hat sich schon viele Gedanken darüber gemacht, auf welchem Weg ein Land am besten zur CO2-Neutralität kommt.

Zur Frage etwa, ob man für den Klimaschutz eher das Ordnungsrecht wählt, also im Extremfall Verbote erlässt, oder ob man ökonomisch vorgeht und durch Umweltabgaben klimafreundliches Verhalten attraktiv macht. "Ohne die Ordnungspolitik geht es nicht", ist sich der 50-Jährige sicher.

Natürlich sei auch die Lenkungsabgabe nicht schlecht, mit der die Schweiz fossile Energieträger verteuert, sie habe aber Grenzen: Zum Beispiel könnten Mieter die Heizung nicht austauschen, bezahlten aber die höheren Energiekosten. "Das heißt: Hier muss ein Verbot neuer Ölheizungen her."

Im Verkehr nimmt der Umweltaktivist unterdessen vor allem die Raumplanung in die Pflicht. "Eine Antriebsenergie durch eine andere zu ersetzen, das alleine reicht nicht." Denn Verkehr habe viel mit den Strukturen zu tun: "Die Menschen pendeln ja nicht 50 oder 100 Kilometer, weil sie das gerne tun, sondern weil der Arbeitsplatz und die Wohnung so weit auseinander liegen."

Beides müsse daher wieder stärker zusammenrücken, eine "Stadt der kurzen Wege" sei nötig. Die Auswirkung der Raumplanung auf den Energieverbrauch werde bislang viel zu wenig diskutiert.

Es sei an der Zeit, das Auto aus den Städten zurückzudrängen, sagt Hänggi. Die Menschen merkten dann schnell, dass solche Verbote zu mehr Lebensqualität führen – "obwohl Verbote ja immer verpönt sind". Bestes Beispiel sei Kopenhagen, wo stattdessen das Fahrrad massiv an Bedeutung gewonnen habe: "Die Stadt ist deutlich schöner geworden." Das gelte es den Menschen zu vermitteln, um den Wandel als etwas Positives begreifbar zu machen.

Ein Verfassungsartikel ist noch kein Gesetz

Am einfachsten wäre dem Klimaschutz gedient, würden CO2-Emissionen nicht auch noch mit Staatsgeld befördert. "Jegliche Subventionierung fossiler Energiequellen, direkt oder indirekt, durch Staaten und internationale Organisationen ist einzustellen", schrieb Hänggi bereits im Jahr 2008 in seinem Buch "Wir Schwätzer im Treibhaus – warum die Klimapolitik versagt".

Theoretisch sehen das zwar auch die weltweiten Organisationen längst ein; die G20-Länder verpflichteten sich bereits 2009 in Pittsburgh dazu, "ineffiziente Subventionen, die den verschwenderischen Umgang mit fossilen Brennstoffen fördern, zu rationalisieren und stufenweise ganz abzubauen".

Die Praxis ist aber nach wie vor eine andere, wie alljährlich im Herbst der World Energy Outlook der Internationalen Energieagentur belegt. Die Horrorzahl des jüngsten Berichts: Weltweit wurden im vergangenen Jahr 400 Milliarden Dollar an Subventionen für fossile Energien bezahlt.

In der Schweiz immerhin, sagt Hänggi, sei die direkte Förderung der Fossilen nicht das große Thema. Weit verbreitet aber sei die indirekte Subventionierung – vor allem, indem Umweltschäden nicht von den Verursachern, also den Verbrauchern fossiler Energien bezahlt werden müssen, sondern von der Allgemeinheit. Mit einem Ende der Fossilen im Jahr 2050 hätte sich auch diese Subventionierung erledigt.

Der Aletsch-Gletscher bewegt sich wie eine breite Straße um einen kahlen Gipfel in den Schweizer Alpen herum.
Auch der größte Gletscher der Schweiz und der gesamten Alpen, der 23 Kilometer lange Große Aletsch, hat zu schmelzen begonnen. (Foto: Igor Šperka/​Wikimedia Commons)

Ob der neue Verfassungsartikel nun kommt, werden allein die Bürger entscheiden. Doch so attraktiv die politischen Gestaltungsmöglichkeiten für die Schweizer Bevölkerung durch die Volksabstimmungen auch sind, in einem anderen Punkt, so Hänggi, sei wiederum das politische System in Deutschland von Vorteil: In der Schweiz gibt es kein Bundesverfassungsgericht.

Die Folgen malt der Aktivist aus: "Es könnte passieren, dass das Null-Emissions-Ziel zwar von den Bürgern angenommen wird und damit in die Verfassung kommt, dass dann die Regierung und das Parlament aber die nötigen Gesetze verschleppen."

Das bedeute dann, "am Ende doch wieder politische Lobbyarbeit zu machen, um Parlamentarier zu überzeugen". Die Arbeit wird den Klimaschützern also wohl auch dann nicht ausgehen, wenn die Schweizer die Gletscher-Initiative annehmen. Aber ein starkes Signal wäre ein solches Votum zweifellos.

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